Kiez und Corona

Nur weiter mutig bleiben. Foto: mr

Politikerbefragung zur Notsituation

Die Kiez und Kneipe befragte Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) und Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) zur aktuellen Situation in Neukölln.
Als Verantwortlicher für das Ordnungsamt und die Wirtschaftsförderung ist Martin Hikel dafür zuständig, dass die wegen der Pandemie erlassenen Regeln eingehalten werden und dass diejenigen, die auf Grund dieser Einschränkungen ihr Einkommen als Geschäftsinhaber, Gastronomen oder Künstler verloren haben, auf Hilfe hoffen können.
Die Idee eines zeitlich begrenzten bedingungslosen Grundeinkommens findet er zwar charmant, aber »wir können uns dazu keine langen Debatten leisten, sondern es geht jetzt darum, so schnell wie nur möglich allen zu helfen, deren berufliche Existenz auf dem Spiel steht, die vielleicht nicht wissen, mit welchem Geld sie in zwei Wochen einkaufen gehen können. Und das geht am schnellsten, wenn man die Instrumente nimmt, die da sind: Soforthilfen für Kleinunternehmer und Selbstständige, Kurzarbeit für die hunderttausende Menschen, die gerade nicht arbeiten können oder eben die Kredite für Clubs und größere Gewerbe. Das kommt schneller bei den Menschen an, als ein Grundeinkommen.« Möglicherweise müsse bei den Hilfen auch nachgebessert werden, denn »67 Prozent des Nettoeinkommens sind für Alleinerziehende, die eh schon wenig haben, verdammt knapp.«
Personell sei das Amt für diese Herausforderung gerüstet. »Wir haben in kürzester Zeit den Notbetrieb geplant und umgesetzt.« Aber da in der derzeitigen Situation besonders das Gesundheitsamt gefordert sei, würden viele Mitarbeiter anderer Ämter dorthin versetzt. Das bedeute, dass an anderer Stelle wie beispielsweise im Bürger­amt Dienstleistungen gestrichen werden müssen. Dort können nur noch die wichtigsten Dinge erledigt werden.
Dass die Regeln eingehalten werden, dafür sorgen Polizei und Ordnungsamt gemeinsam. Täglich werden rund 500 Betriebe überprüft.
Die derzeitigen Einschränkungen haben auch Einfluss auf den Politikbetrieb. Sitzungen der Ausschüsse und der Bezirksverordnetenversammlung wurden abgesagt. »Auf lange Sicht brauchen wir natürlich eine entscheidungsfähige BVV. Das kann man lösen, indem sich die Fraktionen darauf einigen, dass nicht alle teilnehmen wie in manchen Landtagen, aber die Mehrheitsverhältnisse bestehen bleiben.«
Die Krise sei noch lange nicht vorbei, sagt Hikel, und bittet die Neuköllner kühlen Kopf zu behalten, »so wenig Kontakt wie möglich, so viel wie nötig und im Sinne der Solidarität auf Hamsterkäufe verzichten.« Sein Fazit: »Neukölln zeigt gerade wieder einmal, was gelebte Solidarität konkret bedeutet. Ich wünsche mir, dass wir uns diese Solidarität erhalten können und für unseren Bezirk gemeinsam etwas Gutes daraus machen.«

Nichts mehr zu hamstern.     Foto: mr

Derzeit sei nur ein Bruchteil der verfügbaren Intensivbetten belegt, sagte Gesundheitsstadtrat Falko Liecke. Ein ungebremster Anstieg der Infektionszahlen könne das Gesundheitssystem aber schnell an seine Grenzen bringen. Daher sei es wichtig, »die Verbreitung des Virus und damit auch die gleichzeitig notwendige intensivmedizinische Betreuung so lange wie möglich hinaus zu zögern und zu strecken.« Das gehe aber nur, wenn sich alle an die Regeln halten.
Wer befürchtet, sich infiziert zu haben, kann sich an das Gesundheitsamt unter der Telefonnummer 030 90239 4040 wenden. Getestet wird aber nur, wer typische Symptome wie Fieber, Husten und Schnupfen aufweist oder mit einer infizierten Person Kontakt hatte. »Und sie bleiben bitte zunächst zu Hause, Krankschreibungen durch den Hausarzt sind aktuell auch telefonisch unkompliziert möglich«, empfiehlt der Stadtrat.
Flächendeckende Tests sind derzeit nicht möglich, weil es in Berlin nicht genug Testkapazitäten gibt. Außerdem ergebe es auch keinen Sinn, »Menschen ohne konkrete Anhaltspunkte zu testen. Denn der Test heute sagt nichts über den Zustand morgen aus. Wer heute negativ getestet wird, kann morgen schon infiziert sein. Und schon jetzt haben wir 96 Prozent negative Tests, trotz der strengen Kriterien.«
Wer infiziert ist und deshalb in Quarantäne muss, wird nicht allein gelassen. Mitarbeiter des Gesundheitsamtes und anderer Abteilungen des Bezirksamtes »telefonieren jeden Tag die unter Quarantäne stehenden Neuköllnerinnen und Neuköllner ab und fragen ganz gezielt nach, wie geholfen werden kann.« Bisher funktioniere die Unterstützung aber noch gut über Nachbarschaftshilfe, Bekannte, Freunde und Familie. »Es klingt widersprüchlich, aber die Quarantäne lässt die Menschen zusammenrücken. Das ist gut so.«
Schon seit langem beklagt Liecke »dass die Gesundheitsämter berlinweit schlecht ausgestattet sind. Es fehlen Ärztinnen und Ärzte, es fehlt medizinisches Fachpersonal und sie werden zu schlecht bezahlt.« Erst seit Januar gibt es in Neukölln wieder einen Amtsarzt. Aber die die da sind, »machen gerade einen tollen Job und stellen persönliche Bedürfnisse hinten an. Sie stellen sicher, dass wir die Krise gut überstehen werden«, lobt der Stadtrat seine Kollegen.
Wenn die Menschen den ganzen Tag zusammen in der Wohnung verbringen, kann das zu Stress und Gewaltausbrüchen führen. Für viele Frauen und Kinder werden die eigenen vier Wände zur Falle. »Die soziale Kontrolle ist unser Trumpf im Kinderschutz. Wenn sie wegfällt, weil sich das ganze Leben nur noch in der Wohnung abspielt, kann es in manchen Familien gefährlich werden«, sagt Liecke und appelliert an alle Neuköllner: »Schauen Sie hin. Rufen Sie lieber einmal zu oft unser Kinderschutzteam unter 030 90239 55555 an.«
Aber es gibt Hoffnung: »Die Zahlen zeigen erste Erfolge dieser enormen Einschränkungen unser aller Leben. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wenn wir gemeinsam diese Herausforderung bestehen, wird unser Neukölln stärker sein als vorher«, ist Lieckes Fazit.
mr
Die kompletten Interviews sind auf www.kuk-nk.de nachzulesen.