Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 256 – Freitag,  7. November 1919
Haases Zustand hoffnungslos. Nach Mitteilungen aus dem St. Hedwigskrankenhause muß der Zustand des Abgeordneten Hugo Haase leider als hoffnungslos bezeichnet werden. Der Kranke ist nicht mehr bei Besinnung; er kann sich nicht mehr mit seiner Umgebung unterhalten, sondern ist völlig benommen und phantasiert seit Stunden ununterbrochen. Nach Ansicht des Geheimrats Prof. Dr. Rotter geht der Patient seiner Auflösung entgegen.

Nr. 256 – Freitag,  7. November 1919
Gegen die Holzdiebe in dem bewaldeten Teile der Hasenheide geht die neue Sicherheitswehr mit erfreulicher Entschiedenheit vor. Bei den Streifen, welche die Sicherheitswehr Tag und Nacht unternimmt, sind bereits zahlreiche Holzdiebe abgefaßt und der Kriminalpolizei zugeführt worden.

Nr. 268 – Samstag,  22. November 1919
Zum Zweiten Bürgermeister von Neukölln wählte die Stadtverordneten=Versammlung in ihrer gestrigen Sitzung anstelle des zum Oberbürgermeister von Erfurt gewählten Bürgermeisters Dr. Mann den bisherigen Stadtverordneten=Vorsteher Redakteur Alfred Scholz. Von 65 abgegebenen Stimmen fielen 37 auf Herrn Scholz, 1 auf Herrn Magistratsrat Lange. Unbeschrieben waren 27 Zettel.

Nr. 269 – Sonntag,  23. November 1919
Die neue Volkshochschule Neukölln hat ihren ersten Lehrgang mit einer recht ansehnlichen Hörerzahl eröffnet. Zu den angesetzten 30 Kursen, die zum Teil noch im laufenden Monat beginnen, konnten bisher 3254 Meldungen, die 2348 männliche und 906 weibliche Teilnehmer umfassen, entgegengenommen werden. Ein auffallendes Interesse wird seitens der Neuköllner Bevölkerung an den eingerichteten Sprachkursen bekundet. Hier meldeten sich allein zu dem englischen Kursus 480 Teilnehmer beiderlei Geschlechts. Von den übrigen Wissensgebieten treten die Lehrgänge über Rede= und Vortragskunst mit 163, über kommunale Wissenschaft mit 180 und über die Entwicklungsgeschichte des Weltalls mit insgesamt 200 Hörern als gut besucht in den Vordergrund. Der weitaus größte Teil der Hörerschaft setzt sich nach der amtlichen Statistik aus kaufmännischen und Handwerkerkreisen zusammen.

Nr. 271 – Donnerstag, 27. November 1919
Gegen die Fleckfiebergefahr. Die nach der Rückkehr unserer Frontsoldaten besonders stark in der Erscheinung getretene Verlausung eines Teils der großstädtischen Bevölkerung ist dank der Einsicht der betroffenen Personen und der behördlichen Maßnahmen erheblich eingedämmt worden. Die außerordentlich leichte Uebertragunsgefahr insbesondere der Kleiderläuse hat es jedoch mit sich gebracht, daß leider auch ein großer Teil unserer Schuljugend von dem Ungeziefer nicht verschont geblieben ist. Mit Rücksicht darauf, daß in den Schulen infolge des engen Zusammensitzens der Kinder die Weiterverbreitung des Ungeziefers, das bekanntlich als eine der hauptsächlichen Ursachen für die Uebertragung des Fleckfiebers anzusprechen ist, erheblich begünstigt wird, muß im Interesse der Volksgesundheit immer wieder auf die dringende Notwendigkeit der Entlausung der mit dieser Plage behafteten Kinder hingewiesen werden. Die städtische Entlausungsanstalt Neukölln, Mittelbuschweg 8=9, ist täglich von 8-5 Uhr auch für erwachsene Personen zur unentgeltlichen Benutzung geöffnet.

Nr. 272 – Freitag,  28. November 1919
Ein Zobelfuchskragen im Werte von 1000 M. kam bei einer Vereinsfestlichkeit in der Kindl=­Brauerei dem Fräulein Hertha Keil, Münchenerstraße 25=26, abhanden. Frl. K. hatte den Kragen irrtümlicherweise auf dem Garderobentisch liegen lassen. Ein Vereinsmitglied sah den Kragen liegen und übergab ihn der Garderobenfrau zur Aufbewahrung. Kurz darauf erschien ein junger Mann und verlangte den »Pelzkragen seiner Braut«, der auf dem Garderobentisch liegen geblieben sei und erhielt denselben auch ausgehändigt. Später ergab sich, daß der Unbekannte ein Schwindler war, der wohl den Vorfall beobachtet und daraufhin den Betrug verübt hatte.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1919 übernommen. Das Original befindet sich in der Zentral- und Landesbibliothek,
Breite Straße 30,  10178 Berlin.

 

Hugo Haase

Der vergessene SPD-Vorsitzende

Der Rechtsanwalt Hugo Haase aus Königsberg wurde 1911 zusammen mit August Bebel zum Parteivorsitzenden der SPD gewählt, ein Jahr später wurde er Mitglied des Reichstages. Nach Bebels Tod 1913 leitete er zusammen mit Friedrich Ebert die Partei und übernahm mit Philipp Scheidemann zusammen auch den Fraktionsvorsitz.
Haase war entschiedener Kriegsgegner. Kurz vor dem ersten Weltkrieg 1914 leitete er viele Protestkundgebungen und publizierte Aufrufe gegen den drohenden Krieg. Trotzdem beugte er sich dem Fraktionszwang und erklärte in der Reichstagssitzung am vierten August 1914 im Namen der Partei, dass sie die Kriegskredite bewillige.
Im darauf folgenden Jahr jedoch trat er gegen die mehrheitliche Meinung in seiner Partei immer offener gegen die Kriegsziele der Reichsregierung auf. Am 24. März 1916 stimmte er gegen die weitere Finanzierung des Krieges und wurde dafür aufs heftigste beschimpft. »Schamloser Kerl, frecher Halunke!«, schrie Ebert. Von »Sturmszenen«, wie sie im Reichstag noch nie erlebt worden seien, »eben so leidenschaftlich als beschämend und beklagenswert«, berichtete tags darauf der »Vorwärts«.
Er und andere Kriegsgegner wurden erst aus der SPD-Fraktion, im Januar 1917 auch aus der Partei ausgeschlossen. Am 24. März 1916 gründete Haase daraufhin die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft, die sich Ostern 1917 als Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) formierte, deren Vorsitzender er 1918 wurde. Als solcher wurde er nach der Novemberrevolution Mitglied des von USPD und MSPD gegründeten »Rats der Volksbeauftragten«.
Am 8. Oktober 1919 wurde Hugo Haase von Johann Voss, einem angeblich geistesgestörten Arbeiter, angeschossen, als er den Reichstag betreten wollte. Zuerst schienen die Verletzungen nicht lebensbedrohlich zu sein, schon bald aber trat eine Blutvergiftung ein. Nach wochenlanger Krankheit erlag er am 7. November 1919 seinen Verletzungen.

mr