Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 228 – Sonnabend, 4. Oktober 1919
Der Film im Dienste der Kriminalpolizei. Bei schweren Verbrechen werden in Zukunft die Bilder der gesuchten Personen den Theaterbesuchern während der Pausen auf der Leinwand gezeigt werden. Mit dem Bild erscheint ein kurz gefaßter, von der Kriminalpolizei verfaßter Text, der auf das Verbrechen und die ausgesetzte Belohnung hinweist. Die ersten Bilder, die versuchsweise in einigen Lichtspielhäusern gezeigt werden, stellen den Unteroffizier Dahlmann dar, der seinerzeit in der Münzstraße seine Geliebte erschoß und entkam. Ein neues Mittel, die allgemeine Sicherheit zu steigern.
Nr. 231 – Mittwoch, 8. Oktober 1919
Bekämpfung der Wohnungsnot in Neukölln. Sehr viele Kriegs= und andere Betriebe haben sich während des Krieges stark ausgedehnt. Infolge Rohstoffmangels und allgemeinen Rückganges des gewerblichen Lebens mußten sie in letzter Zeit zu erheblichen Einschränkungen, teilweise sogar zu völliger Stillegung ihrer Betriebe schreiten. So kommt es, daß viele gewerbliche Räume zurzeit nicht gehörig ausgenutzt werden. Die bestehende Wohnungsnot erfordert es aber, jeden verfügbaren Raum zu erfassen und Wohnungszwecken dienstbar zu machen. Im amtlichen Teil veröffentlicht der Magistrat eine Verordnung, wonach das Wohnungsamt auch benutzte Fabrik=, Lager=, Werkstätten=, Dienst=, Geschäfts= und sonstige derartige Räume in Anspruch nehmen kann. Bisher konnte das Wohnungsamt nach der Bekanntmachung vom 21. Dezember 1918 nur die Ueberlassung unbenutzter Fabrik= usw. Räume beanspruchen. Ferner gibt der Magistrat bekannt, daß als unbenutzt (d. h. zur Beschlagnahme und Einweisung von Wohnungssuchenden nach § 4 der Wohnungsmangel=Verordnung geeignet) auch eine eingerichtete Wohnung gilt, die von dem Verfügungsberechtigten deshalb nicht dauernd benutzt wird, weil er innerhalb oder außerhalb des Gemeindebezirks noch eine andere Wohnung, nämlich seine Hauptwohnung, besitzt. Jeder, der mehrere Wohnungen besitzt, wird aufgefordert, hiervon unverzüglich dem Wohnungsamt Anzeige zu erstatten und dabei anzugeben, welche Wohnung als seine Hauptwohnung anzusehen ist, die er zu behalten wünscht.
Nr. 231 – Mittwoch, 8. Oktober 1919
Die Ehescheidungsklagen und Sühnetermine haben in Großberlin eine solche Ausdehnung angenommen, daß die Gerichte sie kaum bewältigen können. Während des Krieges sind solche Klagen selten anhängig gemacht worden; jetzt übertreffen sie an Zahl alle anderen.
Nr. 246 – Sonntag, 26. Oktober 1919
§ Von der Auflage des Mordes und des versuchten Mordes freigesprochen. Vor dem Schwurgericht des Landgerichts II hatte sich gestern die Ehefrau des Arbeiters Reinhold Jeschke, Frau Anna Jeschke, geb. Lehmann, zu verantworten. Sie war Mutter von 5 Kindern und sah der Geburt eines sechsten entgegen. Mit diesen Kindern und ihrem Ehemann lebte sie in Neukölln in Stube und Küche zusammen. Ihr Mann, der im Jahre 1917 aus dem Heer entlassen worden war, machte ihr häufig heftige Szenen, weil die Kinder zu viel kosteten, und verprügelte seine Frau, obgleich er in einer Metallschmelzerei schönen Verdienst hatte. Sie machte deshalb den Versuch, die militärische Wiedereinziehung ihres Mannes zu erreichen, und als dieser Versuch mißlang, beschloß sie, mit ihren Kindern aus dem Leben zu scheiden. Sie öffnete am 22. Juni 1918 die Gashähne ihrer Wohnung und erwartete mit ihren Kindern den Tod, der bei der Entdeckung ihres Vorhabens bei ihren drei jüngsten Kindern Elfriede, Kurt und Ernst bereits eingetreten war, während sie selbst und ihre beiden ältesten Kinder noch gerettet werden konnten. Die Angeklagte bestritt ihre Tat nicht. Der als Sachverständiger vernommene Oberarzt der Irrenanstalt Buch, in welcher die Angeklagte längere Zeit beobachtet worden war, gab seiner wissenschaftlichen Ueberzeugung dahin Ausdruck, das Angst, Zorn und Haß in Verbindung mit der bestehenden Schwangerschaft bei der Angeklagten einen Zustand hervorgerufen habe, der die freie Willensbestimmung ausschloß. Diesem Gutachten zufolge beantragte der Staatsanwalt selbst die Freisprechung und auch die Geschworenen kamen nach kurzer Beratung zu einem Nichtschuldig, sodaß die Angeklagte freigesprochen und sofort entlassen werden mußte.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1919 übernommen. Das Original befindet sich in der Zentral- und Landesbibliothek,
Breite Straße 30, 10178 Berlin.
Wohnungsnot vor 100 Jahren
Zuwanderer und Flüchtlinge verschärften die Lage
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in Berlin eine bis dahin nicht gekannte Wohnungsnot. Rund 130.000 Wohnungen fehlten. Zudem waren viele Häuser in einem sehr schlechten Zustand, konnten jedoch aufgrund mangelnder Baumaterialen und fehlender Arbeitskräfte nicht instand gesetzt werden. Gestiegene Geburtenraten, zunehmende Landflucht und die Notwendigkeit der Unterbringung von Flüchtlingen aus den an die Siegermächte abgetretenen Gebieten des Reiches verstärkten das Problem zusätzlich.
Die Wohnverhältnisse waren zum Teil unmenschlich. Sofern ärmere Familien überhaupt eine eigene Unterkunft fanden, lebten sie oft dicht gedrängt in engen, oft stickigen Mietskasernen, die sich um dunkle Hinterhöfe reihten.
Der Staat reagierte auf die Wohnungsnot mit restriktiven Maßnahmen wie Zwangseinquartierungen in Privathäusern und Mietwohnungen und einer Wohnraumbewirtschaftung, die noch bis 1928 galt.
Die Weimarer Republik versuchte ab Mitte der 20er Jahre, die Wohnungsnot mit großangelegten, massiv von der öffentlichen Hand geförderten Wohnungsbauprogrammen zu überwinden. Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften entstanden, wie die im Jahr 1924 gegründeten Gesellschaften DEGEWO, GEHAG, GSW, »Stadt und Land« sowie die »Investitionsbank Berlin«.
Die von ihnen errichteten Großsiedlungen der Weimarer Republik wie Bruno Tauts Hufeisensiedlung bilden die Grundlage des traditionsreichen städtischen Wohnungsbaus in Berlin.
mr