Eine Ellenbogenlänge entscheidet über nicht erfolgte Körperverletzung
Gestenreicher geht es nicht. Selten geschieht das so theatralisch wie am 7. Juni vor dem Amtsgericht Tiergarten, das zuständig ist für Strafverfahren. Angeklagter, Zeugin, Amtsanwältin, Richterin und Verteidigerin: alle kamen der Reihe nach ins Gestikulieren, beugten sich mit erhobenen, fuchtelnden Armen immer wieder vor, um einen Vorfall in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung (BVV) im Vorjahr nachzustellen. Ihre Gesten spiegelten sich gegenseitig wieder.
Was wie eine Posse klingt, war durchaus ernst. Gegen den Reporter Stephanus P. wurde durch das AfD- Mitglied Anne Z. Strafanzeige wegen Körperverletzung erstattet. Für den Reporter hätte diese Anschuldigung nach einer Verurteilung ernste Folgen haben können.
Im ersten Akt ließ sich Stephanus P. sachlich auf die Anklage ein. Anne Z. sei an den Pressetisch in der Neuköllner BVV gekommen und habe sich über zu laute Gespräche beklagt. Dabei sei sie auf ihn zugegangen, bis auf etwa 30 Zentimeter Abstand, habe vor seinen Augen in Windeseile ihren rechten Arm geschwenkt, er habe ihn mit einer instinktiven Bewegung seiner rechten Hand im Reflex abgewehrt. Die Amtsanwältin wiederholte mit in Bewegung befindenden Armen und Händen die Gestik des Angeklagten.
Dann kam Anne Z. im zweiten Akt als Zeugin zu Wort. Ihr Arm habe geschmerzt, maximal sechzig Minuten, ohne weitere Folgen. Vor Gericht gab sie den Schmerz erneut als »leicht« an. Die Anwältin des Angeklagten konfrontierte sie mit Aussagen, die sie gegenüber der Polizei mündlich oder schriftlich gemacht hatte, und bat Anne Z., den Vorgang noch einmal zu demonstrieren. Die Zeugin wirbelte mit den Armen, beugte sich zur Richterin, die sich zurück wandte, obwohl sie zehn Meter entfernt saß, als hätte die den rechten Arm der Zeugin in unmittelbarer Nähe vor ihrem Gesicht gehabt.
Im dritten Akt beriet sich die Richterin mit der Verteidigerin und der Amtsanwältin unter Ausschluss der Öffentlichkeit fünfzehn Minuten im Gerichtssaal, während der Angeklagte Stephanus P., die Zeugin Anne Z. und die Zuschauer vor der Saaltür mit Spannung auf das Ergebnis der Beratungen warteten.
Die Öffentlichkeit, der Angeklagte sowie alle geladenen Zeugen wurden zum vierten Akt wieder hinein gebeten. Das Plädoyer wurde eröffnet. Die Amtsanwältin plädierte auf Freispruch. Es läge keine Körperverletzung vor, weil sich der leichte Schmerz spätestens nach einer Stunde gelegt habe und die Zeugin sich mit ihrem rechten Arm mehr als dreißig Zentimeter genähert habe. Die Verteidigerin schloss sich diesem Plädoyer an. Das Gericht, bestehend aus einer Richterin und einer Schriftführerin, zog sich darauf hin zur Beratung zurück.
Abschließend kam die Urteilsverkündung. Die Richterin entschied auf Freispruch. Die Zeugin Anne Z. habe sich »bis auf die Ellenbogenlänge von dreißig Zentimetern« genähert, »in nahezu Augenhöhe« mit ihrem rechten Arm vor dem Angeklagten gefuchtelt, sodass eine Abwehrreaktion verständlich sei, zumal diese keine schweren schmerzlichen Folgen nach sich gezogen habe.
War dieser scheinbare Fünfakter vor Gerichtwirklich nur eine Posse? Nein, so sahen es die Beobachter im Publikum. Anne Z. hat als Mitglied der AfD einen renommierten Journalisten vor Gericht gebracht, nur weil es am Pressetisch in der Neuköllner BVV angeblich zu laut vorging. In diesem Fall ist der Versuch der Einschüchterung auf ganzer Linie gescheitert.
th