Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 123 – Sonntag, 1. Juni 1919
Oeffentliche Meinung. Mit Bezug auf die Notiz über die Fliederdiebstähle auf dem 2. Thomaskirchhof Hermannstr. 79=83 in »Oeffentliche Meinung« der Nummer 120 erwidern wir: Die Verwaltung der Thomaskirchhöfe beklagt lebhaft das rohe Treiben der Fliederdiebe, die in diesem Frühjahr schlimmer denn je hausen. Es sind zumeist junge Burschen, die auch fast täglich große Planken gewaltsam aus dem Zaun brechen, der den Kirchhof gegen das Tempelhofer Feld schließt. Es waren in den letzten Wochen fast täglich Reparaturen in Höhe von 40-50 M. notwendig. Die Kirchhofsverwaltung läßt es an Aufsicht nicht fehlen – sind doch in dieser Woche bloß für Wächterdienste 216 M. zu zahlen – aber die Wächter allein sind nicht imstande, dem schamlosen Treiben Einhalt zu tun. Die Kirchhofsbesucher werden deshalb gebeten, sich den Schutz der Anlagen angelegen sein zu lassen. Die Kirchhofsverwaltung.
Nr. 132 – Freitag, 13. Juni 1919
Zur Bestattung Rosa Luxemburgs. Der Vollzugsrat für allgemeine Beteiligung an der Beerdigung. Der Vollzugsrat beschäftigte sich in einer Mittwoch stattgefundenen Sitzung mit der heute, Freitag, stattfindenden Beerdigung Rosa Luxemburgs. Folgender, von der Fraktion der U.S.P.D. gestellter Antrag, wurde bei Stimmenenthaltung der Mitglieder der S.P.D. angenommen: »Der Vollzugrat ersucht alle Kreise des werktätigen Volkes, der einem ruchlosen Verbrechen zum Opfer gefallenen Vorkämpferin des Proletariats Genossin Rosa Luxemburg, durch eine allgemeine Beteiligung an der am Freitag, den 13. Juni, stattfindenden Beerdigung die letzte Ehre zu erweisen und damit gleichzeitig Protest gegen alle Schandtaten der Reaktion zu erheben.«
Nr. 124 – Dienstag, 3. Juni 1919
Der tote Gast. In einer Likörstube in der Linkstraße zu Berlin kehrte ein Mann ein, der sich eine Flasche Rotwein kommen ließ. Der Gast, der an einem Tisch für sich allein Platz genommen hatte, trank sein Glas in hastigen Zügen leer, sank dann auf seinem Stuhl zusammen und rührte sich nicht mehr. Als man endlich auf den stillen Gast aufmerksam wurde, sah man, daß er tot war. Ein von der Rettungsstelle hinzugerufener Arzt stellte fest, daß er an Vergiftung gestorben war. Der Mann, ein vierzig Jahre alter Privatbeamter Alfred Schloßheimer aus der Siegfriedstraße 36 zu Neukölln hatte aus einem Fläschchen, das man noch bei ihm vorfand, Zyankali in sein Weinglas geschüttet und sich so vergiftet.
Nr. 129 – Sonntag, 8. Juni 1919
Der Nutzen der Biene für den Obstbaum. Nach den neuesten Untersuchungen ist der Nutzen der Bienen für unsere Fruchtbäume so bedeutend, daß jeder Gartenbesitzer, der es möglich machen kann, in der Nähe seiner Obstbäume auch Bienenstöcke halten sollte. Als wirksame Bestäuber der Obstbaumblüten kommen nämlich in erster Linie die Bienen in Betracht. Man hat in dieser Hinsicht eingehende Versuche gemacht und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß von den Blüten von Obstbäumen, in deren Nähe sich keine Bienen aufhalten, ein verhältnismäßig großer Prozentsatz unbefruchtet bleibt und die Bäume somit einen viel geringeren Ertrag liefern. … Der Obstzüchter sollte also nicht nur mit gelegentlichem Bienenbesuch rechnen, sondern sich die Bestäubung seiner Blütenbestände lieber direkt sichern und sich ein oder das andere Bienenvolk zulegen, daß ihm die geringe Mühe nicht nur mit Honig und Wachs lohnt, sondern auch seinen Obstbäumen zu einer reichen Ernte verhilft.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1919 übernommen. Das Original befindet sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.
Eine Leiche im Landwehrkanal
Rätsel um Rosa Luxemburg
Wenige Tage nach der blutigen Niederschlagung des Januaraufstands verhafteten am 15. Januar 1919 in Berlin Freikorpssoldaten die untergetauchten KPD-Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Anschließend erschossen sie Liebknecht im Tiergarten mit drei Schüssen aus nächster Nähe. Luxemburg wurde ebenfalls von ihren Bewachern heimtückisch ermordet. Ihre Leiche warfen sie in den Landwehrkanal.
Zehn Tage später zog ein Trauerzug durch Berlin. Mit dabei: ein leerer Sarg, der symbolisch mit 31 weiteren Opfern des Januaraufstands, unter ihnen Liebknecht, auf dem Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde zu Grabe getragen wurde. Denn Rosa Luxemburgs Leiche wurde erst Monate später, am 31. Mai 1919 – stark verwest – an einer Schleuse des Berliner Landwehrkanals angeschwemmt und ins Leichenschauhaus der Charité in der Hannoverschen Straße gebracht, wo sie obduziert wurde.
Am 13. Juni wurde sie nachträglich in Friedrichsfelde beerdigt. Abordnungen aus Berlin und ganz Deutschland sowie der internationalen Arbeiterbewegung erschienen zu der Trauerfeier. Weil der Friedhof die Menge nicht aufnehmen konnte, wurden Eintrittskarten für die Beisetzung ausgegeben.
»Die Freiheit«, das Zentralorgan der USPD, schrieb: »Die Berliner Arbeiterschaft hat der Genossin Rosa Luxemburg ein ehrenvolles Begräbnis bereitet.«
Ende Mai 2009 sorgte Michael Tsokos, Leiter der Berliner Rechtsmedizin, für Verwirrung, als er die Öffentlichkeit mit der Nachricht überraschte, bei einer mumifizierten Wasserleiche ohne Kopf und ohne Hände und Füße aus dem Fundus der Rechtsmedizin handele es sich höchstwahrscheinlich um den Leichnam Rosa Luxemburgs. Seiner Ansicht nach hätten die Militärs zunächst tatsächlich geglaubt, den Leichnam der Revolutionärin gefunden zu haben, erst bei der Obduktion sei der Irrtum aufgefallen. Weil das der Regierung niemand geglaubt hätte, wäre die Leiche als Rosa Luxemburg beerdigt worden, damit Ruhe herrsche. Beweisen lässt sich das nicht. Wer die Tote aus der Charité ist, bleibt weiter ungeklärt.
mr