Wieder und wieder wiederholt sich Geschichte

Verlorene Kinder versuchen zu überleben.                                                                    Foto:Matthias Heyde

Die Konstruktion eines Hauses aus wenigen Balken, Wände aus durchscheinendem Stoff, kein Dach, doch ein paar Möbel – aus einem Grammophon ertönt leise die Ouvertüre aus Humperdincks Oper »Hänsel und Gretel«, schwillt an und wird mehr und mehr überlagert von sich näherndem Kanonendonner. Nach und nach kriechen sieben Schwestern aus ihren Verstecken unter Tischen, Schränken und Sesseln hervor.
Das Musiktheater »Wolfskinder« in der Neuköllner Oper bewegt schon in den ersten Minuten. Es ist eine Verwebung der humper­dinckschen Oper mit der Situation der so genannten »Wolfskinder« nach dem zweiten Weltkrieg. Beide Geschichten handeln von Heimat- und Elternlosigkeit. Hänsel und Gretel werden in den Wald geschickt weil die Eltern zu arm sind, und tausende Kinder irren in den Hungerjahren nach dem zweiten Weltkrieg auf der Suche nach Essen und einer warmen Bleibe zwischen Ostpreussen und Litauen umher.
Die sieben jungen Schauspielerinnen verlassen die Bühne eineinhalb Stunden nicht, spielen alle Instrumente und verschieben, während sie spielen, die Requisiten immer wieder selbst, reichen sich in wunderbar symbiotischer Vereinigung Instrumente und Gegenstände hin und her. Die Lieder aus der Oper wechseln sich in abrupter und überlagerter Form ab mit den Erinnerungen der Schwestern an die schwierigen Zeiten nach dem Krieg. Zwischendurch werden Suchmeldungen, wie sie nach dem Krieg im Radio zu hören waren, eingeblendet. Die ganze Zeit passiert etwas auf der Bühne, die sieben agieren zusammen oder erzählen parallel einsam eigene Erlebnisse, trennen sich und kommen wieder zusammen. Am Ende des Stückes werden die Möbel mit weißen Tüchern verhängt, ein Akt des endgültigen Abschieds, der noch einmal mehr sichtbar macht, dass die Existenz des alten Lebens unwiderruflich verloren ist.
Das Stück verbindet sich zu einer Ganzheitlichkeit und erzählt von den vielen einzelnen Schicksalen, die auf unsere heutige Zeit gleichermaßen auf fast unerträgliche Weise übertragen werden können. Eine gelungene Symbiose aus alter Oper, Erinnerung an eine Zeit, die nicht allzu weit zurückliegt und aktuellen Geschehnissen in der Welt – diese Geschichte wiederholt sich wieder und wieder. Ein Abend der sicher noch einige Zeit in unseren Köpfen und Herzen nachhallt.

jr