Start-up-Szene Neukölln: bloßer Hype oder große Chance?

Teil 4: Die Zeiten ändern sich — der Kiez auch

In den ersten drei Teilen dieser Serie haben wir uns der Neuköllner Start-up-Szene von außen in einem ersten Eindruck genähert, die Fördermittel von Land und Bezirk erörtert und sind dann ins Innere der Szene vorgedrungen, um zu erfahren, wie sie denn wirklich aussieht. Im letzten Teil stellen wir nun die unumgängliche Frage: Was macht diese Entwicklung eigentlich mit dem Kiez?

»misuki« – Laden für Hangemachtes aus Neukölln.                                                                                             Foto: pr

Auch die Folgen für den Kiez müssten dann um einiges anders aussehen. In Neukölln stellt sich zwingend die Frage nach den Arbeitsplätzen, immerhin steht hier das zweitgrößte Jobcenter Deutschlands, das sich um die 15 Prozent Neuköllner kümmert, die keinen Job haben. Mit einer Existenzgründung schaffen sich Selbstständige erstmal ihren eigenen Arbeitsplatz, müssen dann aber teilweise noch aufstocken, um über die Runden zu kommen. Ob darüber hinaus auch Langzeitarbeitslose auf eine Einstellung in der Kreativwirtschaft hoffen können, ist nicht gesagt. Oft erfüllen sie nicht das in der Branche gesuchte berufliche Profil. Clemens Mücke, zuständig für Wirtschaftsförderung in Neukölln, geht davon aus, dass die Kreativwirtschaft den Standort interessant für große Unternehmen machen wird: »So werden höchstens im dritten und vierten Schritt Arbeitsplätze im Normalsegment geschaffen«, sagt er.
Für Stefanie Raab ist die Neuköllner Kreativwirtschaft auch in Bezug auf die Entwicklung im Kiez etwas ganz Besonderes. Ihre Erfahrungen zeigen, dass für die jungen Unternehmer in Neukölln soziale Gerechtigkeit eine große Rolle spielt. Vielleicht liege das daran, dass viele sich hier ein beinahe familiäres Umfeld aufbauen und ihr Herzblut in ihre Projekte stecken, vermutet Raab. Sie hat viele Gründer über lange Zeit begleitet und ist mit ihnen durch Dick und Dünn der Anfangsphase gegangen. Hugo und Annika, die mit Raabs Unterstützung ihren eigenen Laden mit Onlineshop (»misuki«) für Handgemachtes aus Neukölln auf die Beine stellten, nennen ihre Helferin bis heute »Mami«.
In der Kreativszene werden Konzepte wie Sharing Economy erprobt, Bildungsangebote entstehen und Cafés werden zu kollektiven Wohnzimmern. Auch sei die Branche offen für alle Menschen. »Die Fähigkeiten stehen ganz klar im Vordergrund, dann ist es egal, ob jemand einen Migrationshintergrund hat, ein Kopftuch trägt, oder noch nicht so gut deutsch kann«, sagt Raab. Deshalb sei hier die Chancengleichheit viel größer als in herkömmlichen Wirtschaftszweigen. »Kaum zu glauben, dass man uns 1995 noch ‚Endstation Neukölln‘ genannt hat«, wundert sich Raab, »jetzt entsteht hier jedenfalls etwas wirklich Neues«.

jt

Gegendarstellung des Ladens Misuki:
„Der Artikel enthält falsche Informationen. Wir haben Frau Raab noch nie „Mami“ genannt. Ebenfalls falsch – oder wenigstens stark übertrieben – ist, dass wir unseren Laden mit Frau Raabs Unterstützung auf die Beine gestellt haben. Wir hatten mit einer Mitarbeiterin von Frau Raabs Firma coopolis damals ein Beratungsgespräch bezüglich Gewerbemietverträgen und wir waren Mitglied in einem von Frau Raab gegründetem Kreativnetzwerk. Darüber hinaus gab es aber keine Unterstützung.“