Timo, der Gedichtemann

Lyrik macht das Leben schöner

Timo rezitiert.                                                                      Foto: jt

Seit fast 20 Jahren bereichert Timo den Alltag von Menschen in ganz Berlin mit seinen Gedichten. Er lebt in Neukölln, weil das seiner Meinung nach die beste Wohnlage ist, und macht jeden Tag die gleiche Runde durch Berlin, weil er »eine wissenschaftliche Affinität zum Immergleichen« pflegt. Er spricht Menschen an, fragt sie, ob sie nicht gerne »eine kleine Alltagsbereicherung« hätten und rezitiert selbstverfasste Gedichte, die Momentaufnahmen von Sinneseindrücken sind. Farbe und alles was die Sinne stimuliert ist für Timo von Bedeutung. Er wünscht, die Menschen würden erkennen, wie viele Möglichkeiten die Erde bietet, um die Sinne zu anzuregen. Seine Gedichte sollen dabei helfen und als »Alltagsunterhaltungssymphonie« die Menschen dazu anregen, sich frei zu entfalten.
Fast jeder, der in Neukölln wohnt, ist Timo schon einmal über den Weg gelaufen, doch fast keiner weiß, dass hinter dem ungezwungenen Mann mit seinen Gedichten ein ganzes philosophisches Konzept steckt. Mit Kiez und Kneipe spricht Timo über seine Gedichte, seine Lebensphilosophie und seinen Wunsch nach mehr Sinnesunterhaltung im Alltag.

Worum geht es in deinen Gedichten?

Alle Gedichte sind unter einer Idee entstanden: Und zwar eine bipolare allesbedeutende Alltagsunterhaltungssymphonie herzustellen. Sie haben alle genau das gleiche automatisch-natürliche Selbstverständnis auf jemanden zuzukommen. Aber sie haben unterschiedlichen Lesearten, wenn sie laut gelesen werden. Und wenn wir uns dann fragen a) wieso versteh ich es nicht, oder b) wieso verstehe ich es so einzigartig gut und uns dann mit uns selbst unterhalten würden, dann würden wir das bekommen, was wir herausfinden wollten. Und wir würden feststellen, dass wir uns auf einem Planeten befinden, der in jedem Moment eine Sinnesdienstleistung zur Stimulation der Sinne zu bieten hat, die zu weiterer Sinnesaktivität anregt. Diese Sinnesaktivität würde dann zu einer transformatorischen Entwicklung führen.

Was meinst du mit transformatorischer Entwicklung?

Das ist eine originelle Studie. Hattest du schon mal ein Gedicht von mir? Hast du es schon ein paar mal gelesen? Wenn man es ein paarmal liest, merkt man, dass es unterschiedliche Lesearten hat. Vielleicht ist dir aufgefallen, dass es unterschiedliche Gewissen sind. Das liegt daran, dass das Gedicht den Moment charakterisiert. Also grün zum Beispiel liest es sich so: »Ich liege neben den Versuchungen / über lebenslang hinaus / zwischen den Händen und Beinen meines Tages ohne Sein« und es klingt Naivität, Abenteuer durch. Wenn ich es aber blau lese, klingt es sehr aufklärerisch, bewundernd, weil Blau eine Wissensfarbe ist. Es ist also eine Studie zur Charakterisierung des Momentes, sodass jeder nachvollziehen kann was blau ist, was grün ist.

Deine Gedichte sind also Momentaufnehmen, von diesen Sinnesstimulierungen?

Sie sind Ewigkeit. Und eben in der Lage, sehr spontane Eindrücke freizusetzen, die aber eigentlich nicht spontan sind, sondern ewig. Grün ist ja immer grün und blau ist immer blau. Aber beide sind sehr unterschiedlich, geradezu bipolar zueinander stehend in der Entwicklungstransformation. Bipolarität ist ja auch eine Eigenschaft der Gedichte. Sie sind komplex und ganzheitlich durch eine studierende Formel.

Hast du schon immer Gedichte geschrieben?

Nein, ich bin initiiert worden von einem Mitbewohner in Prenzlauer Berg, der mich zu großen Dichtern eingeweiht hat. Zu einem Georg Trakel und einem Paul Celan. Sehr eindrucksvoll, sehr gut gemacht, wenn auch nicht vollendet. An ihren Gedichten fasziniert mich deren sinnesunterhaltsame, allesbedeutende Zeit.

Wie viele Gedichte hast du schon geschrieben?

Etwa 480, mehr oder weniger. 240 kamen in einer Nacht und einem Tag über die Hand oder die Schreibmaschine und der Rest sind alles gegenteilige Übersetzungen. Zum Beispiel ist das »Aber, ich liege neben den Versuchungen …« ein introvertiertes den-Moment-wahrnehmen. Eine Drehung um hundertachtzig Grad wäre dann ein extrovertiertes „Du rennst auf mich zu“. Ich schreibe auch sonst stetig weiter, habe eine Werkidee, die mich nicht verlassen wird, aber ich sehe eben ein unterentwickeltes Problem in unserer Gesellschaft. Dass die Menschen nicht mehr in der Lage sind a) den richtigen Preis zu zahlen und b) sind die, die reich sind überhaupt nicht mehr ansprechbar und machen irgendeinen verwechslerischen Blödsinn mit ihrem Geld.

Was meinst du damit, die Leute sind nicht bereit, den richtigen Preis zu zahlen?

Es besteht keine Aufklärung über die Einflüsse von Faszination. Wenn wir etwa Kunst an einen Wert binden, den wir festhalten müssen, oder gar nicht erst zulassen, dass wir uns faszinieren. Wenn ich die Leute auf der Straße frage, »möchtet ihr eine kleine Alltagsbereicherung?«, dann heben sie die Hände und sagen »Nein, will ich nicht!« und das hört sich so an wie »Ich will bloß nichts neues in mein Leben bekommen« und das passiert ständig. 95 Prozent zeigen diese abartige Verwechslung, diese Lebensunterschätzung.

Was verwechseln diese Leute? Und wie läuft es ab, wenn mal jemand »Ja« sagt und ein Gedicht von dir bekommen möchte?

Sie verwechseln keine Sinnesunterhaltung von morgens bis abends mit Sinnesunterhaltung von morgens bis abends. Aber fünf Prozent der Leute sagen »Ja«, das ist ein ziemlich stetiger Wert. Und dann ergibt sich immer ein sehr freudevolles Erlebnis, eine kleine Aufmerksamkeit, die Bereitschaft zuzuhören.

Du fragst die Leute immer, ob sie »ein Gedicht zur Alltagsbereicherung« möchten. Hast du das Gefühl, die Menschen mit deinen Gedichten bereichern zu können?

Ja natürlich, das fühlt sich bestimmt nicht nur bei mir so gut an, sondern manchmal sind die Menschen sogar in der Lage von ihrer Subjektivität zu berichten und sagen, ich hätte eine so fantastische Ausstrahlung und gebe mich so, na ja, so ungezwungen.

Was ist das Schönste an deiner Arbeit?

Die Hoffnung auf ein Paradies der Sinnesunterhaltung.

Ist das ein Paradies im Diesseits oder im Jenseits?

Auf jeden Fall im Diesseits. Ich muss schmunzeln wenn ich an diese Idee des Paradies im Jenseits denke, die nur ein unendliches Ausweichen der Konfrontation mit dieser einfachen originellen Entwicklung, die nicht stattgefunden hat, bedeutet. Also irgendwie versuchen sich die Menschen auch so zu erklären, warum sie nicht im Paradies sind und müssen sich nicht mit ihrer nicht berücksichtigten Unterentwicklung auseinandersetzen. Das ist eine Fehlreflexion, von der wir nichts hören wollen. Wir wollen ja nicht sagen, ich bin ein unterentwickeltes Arschloch, sondern schieben das ganze einfach auf nach dem Tod.

Und was kann jeder Mensch selber tun um nicht zu dieser Unterentwicklung zu verfallen?

Eine selbstverständliche Lebens- oder Geisteshaltung einnehmen, also das heißt locker zu lassen und den Instinkten der Sinnesunterhaltung zu folgen. In Yoga, in Meditation, mit magischen Pilzen, LSD, und vor allem biographische Texte schreiben. Wenn wir alle anfangen würden Biographie zu tun, also alles aufzuschreiben was uns interessiert, und bewegt und uns unterhält, würde das Schritt für Schritt ein großer Erfolg der Entfaltung werden.

jt