Matthias Lohre liest bei »Kutschen-Schöne« am Richardplatz
Als »Kriegsenkel« werden die Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1960 bis 1975 bezeichnet. Sie sind die Kinder der »Kriegskinder«, die als Begründer unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft gelten: Zu jung für den direkten Fronteinsatz, aber alt genug, um Hunger, Vertreibung und Bombenangriffe zu erleiden. Ihr ganzes Leben lang mit dem Aufbau einer gesicherten Existenz und dem Anhäufen materieller Güter beschäftigt, blieben sich die Kriegskinder ein Leben lang selbst fremd, sie versagten sich die Konfrontation mit den eigenen schmerzhaften Empfindungen und Erlebnissen. Bereits in den 60er Jahren stellten Psychologen bei dieser Generation die »Unfähigkeit zu trauern« als prägende Charaktereigenschaft fest.
Die Kriegsenkel haben laut Matthias Lohre diese psychologische Disposition von ihren Eltern »geerbt«: Die »Unfähigkeit zu trauern« der Kriegskinder habe sich in den Enkeln als Unfähigkeit, sich und anderen zu vertrauen, fortgepflanzt. Sie leben im ständigen Zweifel. Matthias Lohre: »Die Älteren haben den Jüngeren nicht ihre Traumata vererbt, sondern deren Folgen.«
Exemplarisch zeigt Lohre in seinem Buch »Das Erbe der Kriegsenkel« anhand seiner persönlichen Geschichte, mit welchen Nöten die Kinder der Kriegskinder bis heute kämpfen: Die nie verarbeiteten traumatischen Erlebnisse ihrer Eltern haben bei Kriegsenkeln zu mangelndem Selbstwertgefühl, extremen Schuldgefühlen und diffuser Angst geführt.
Mit erstaunlicher Offenheit erzählt Lohre bei der gelungenenen Veranstaltung der Buchhandlung »Die gute Seite« über seine Familie, die ihr innewohnende Sprachlosigkeit und Gefühlskälte, und die Notwendigkeit, diese zu überwinden. Denn, so Lohre, den heute etwa 40- bis 60-Jährigen eröffnet sich die letzte Chance, die Seelentrümmer ihrer Familien-Vergangenheit aufzuspüren.
rb
Matthias Lohre: Das Erbe der Kriegsenkel. Gütersloher Verlagshaus, März 2016, 19,99 Euro.