Der »Heimathafen Neukölln« überrascht mit einer ungewöhnlichen Produktion
Wer hat nicht schon mal Lust gehabt, unfähigen Politikern einen Denkzettel zu verpassen? Nicht zur Wahl zu gehen oder besser noch, einen leeren Stimmzettel abzugeben. Letzteres ist effektiver.
Diese Idee hat der portugiesische Nobelpreisträger für Literatur, José Saramago, in seinem 2004 erschienenen Roman »Die Stadt der Sehenden« aufgegriffen. Auf der Grundlage dieses Romans inszenierte der »Heimathafen Neukölln« eine ungewöhnliche Produktion, einen utopistischen Audiowalk in der Kuppel des Reichstags.
Mit einer Art Audioguide ausgerüstet begibt sich das Publikum zur Kuppel des Reichstags und taucht in diesem Hörspiel in eine ganz andere Welt ein.Dort herrscht der Ausnahmezustand: zwar gab es 100 Prozent Wahl- beteiligung, davon aber 83 Prozent leere Stimmzettel. In diesem historischen Wahlergebnis sieht die Regierung einen drohenden An- griff auf das System und bezieht gegen das eigene Volk Stellung.
Die Regisseurin Nicole Oder und ihr Team haben in ihrer Produktion natürlich Berlin in den Mittelpunkt gerückt: die überforderte Kanz- lerin spricht mit der Stimme Merkels, es wird überlegt, die Mauer wieder aufzubauen, um Berlin einzuschließen. Regierungen aus der ganzen Welt blicken auf Berlin.
Saramagos Parabel wird zu einem Hörstück über einen perfekten Aufstand, über eine friedliche Revolution mündiger Bürger. Und vor allem über eine Stadt im Ausnahmezustand, in der sich die Regieren- den weigern, ihre Niederlage anzuerkennen und den demokratischen Extremfall zu akzeptieren.
Die Symbolik der Farbe »weiß« wird aufgegriffen, »weiße Stimm- zettel« werden als bedrohlich empfunden. Dazu paßt der Blick auf den weißen Schnee vor dem Reichstag.
Eine spannende Inszenierung, deren Besuch sich lohnt. Allerdings sind die meisten Termine schon ausgebucht. Der nächste freie Termin ist am Sonntag, den 7. Februar um 10:30 Uhr.
pschl