Wiener Häuserkampf an der »Neuköllner Oper«
Während in den Achtzigern in West-Berlin der Häuserkampf tobte, war es in Wien ziemlich ruhig. Vereinzelte Hausbesetzungen wurden sofort vereitelt. Niemand rechnete damit, dass im Jahr 2014 die beschauliche österreichische Hauptstadt Schauplatz eines Einsatzes von über 1.500 Polizisten gegen 19 Punks werden konnte.
Die absurde Geschichte könnte aus einem »Kottan«-Krimi stammen.
Ein Immobilienspekulant ging zu einem Treffen von Wiener Punks. Er bot ihnen an, dass sie in einem Wohnhaus im Wiener Bezirk Leopold- stadt für einen Euro pro Jahr wohnen könnten und alle Freiheiten hätten. Die Freude der Punks war groß, sie nahmen das Angebot an.
Natürlich verfolgte der Immobilienmakler eine Absicht. Die Punks sollten Chaos anrichten und das Haus verkommen lassen, um die Alt- mieter rauszuekeln. Der Plan ging aber nicht auf. Punks und Altmieter verstanden und solidarisierten sich. Sie gründeten die Anarcho-Gemeinschaft »Pizzeria Anarchia«, eine Volksküche mit selbstgemachter Pizza, nebenher organisierten sie politische Filme, Diskussionen und Straßenfeste und betrieben eine Fahrradwerkstatt. So gewannen sie Sympathien bei vielen Wienern.
Es wäre ein schönes Märchen gewesen, wenn die Realität nicht eine andere wäre. Der Räumungsklage des Hauseigentümers wurde statt-gegeben. Am 28. Juli 2014 kam es zu einem Großeinsatz der Polizei mit rund 1.500 Polizisten gegen 19 im Haus verschanzte Punks, der den Staat 870.000 Euro kostete und mehr als zehn Stunden dauerte.
Aus diesem brisanten Stoff entwickelten der künstlerische Leiter der Neuköllner Oper, Bernhard Glocksin, gemeinsam mit dem österrei-chischen Texter Thomas Desi und der Regisseurin Michela Lucenti eine szenische Groteske, eine gesellschaftskritische Parabel über Freiheit und Macht, Anarchie und Menschlichkeit. Besonders die Zusammenarbeit mit dem »Balletto Civile«, eine der innovativsten Tanztheatergruppen Italiens, prägt das Stück, das am 15. Oktober an der Neuköllner Oper Premiere hatte.
Die sieben virtuosen Tänzer dieses Theaters überzeugen durch ihre an Comedia dell Arte erinnernde Körpersprache von Punks, anarchi- schen Hunden, Pizza essenden Affen und Mozart singenden Poli- zisten. Als verbindende Figur dient der großartige Bariton Benoit Pitre, der nicht nur als Sänger, sondern auch als Schauspieler beein- druckt.
Eine wichtige Rolle spielt die Musik von Michael Emanuel Bauer, die teils sehr minimalistisch wirkt. Passend zu den jeweiligen Szenen erklingen musikalische Fragmente aus diversen Genres wie Jazz, Punk, Rock, Musical und Oper. Alberto Cavenati an der Gitarre und Florian Bergmann am Altsaxofon und der Bassklarinette sind großartige Interpreten dieser Musik und greifen auch als Akteure in das Geschehen ein.
Drei Sprachen kommen an diesem Abend zum Einsatz: Italienisch, Englisch, Deutsch. Für jene, die kein Englisch und Italienisch können, gibt es eine Übertitelung. Allerdings lenkt der Blick auf die Über- setzung vom Geschehen auf der Bühne ab. Zwar hat die Regisseurin bewusst auf einen stringenten Handlungsrahmen verzichtet, doch dadurch wirken die szenischen Abfolgen etwas beliebig. Das Bedroh- liche des übertriebenen Polizeieinsatzes überträgt sich kaum auf den Zuschauer und auch das Problem der Gentrifizierung wird nur an- satzweise behandelt.
Der Gesamteindruck ist etwas zwiespältig, besonders für denjenigen, der mit den Geschehnissen rund um die zehn Stunden andauernde Räumung des Hauses vertraut ist.
pschl