Sitzen machen!
Mein Fahrrad ist geklaut worden. Das ist eine Ungeheuerlichkeit und Unanständigkeit, die ihresgleichen sucht. Ungewöhnliche Umstände ziehen ungewöhliches Handeln nach sich. Ich meide die öffentlichen Verkehrsmittel aus unterschiedlichen Gründen. Sie sind mir zu dunkel oder zu voll oder zu unzuverlässig oder zu stinkend oder zu frustrierend oder zu agressiv oder zu langsam oder zu teuer. Gründe, das weltbeste funktionierende öffentliche Verkehrssystem zu meiden, fallen mir viele ein.
In diesem Fall jedoch bedeutete es, dass ich mit der S-Bahn fahren musste. Mein Ziel wäre fußläufig in knapp drei Stunden erreichbar, mein Ziel war nämlich Charlottenburg, inzwischen gefühlt Spandau. Es war dort mein erster Arbeitstag. Und so früh wollte ich nun doch nicht aus den Federn.Mit dem abgezählten Geld für die S-Bahn machte ich mich auf den Weg. Das Ticket kam erstaunlicherweise wie gewünscht aus dem Automaten, und die S-Bahn kam ungewöhnlich pünktlich.
Und sie war voll. Das war ja nun gar nichts für mich. Diese Menschen, die schon am frühen Morgen so eng aneinanderstanden, raubten mir die Luft und machten mich schwindelig. Die Knie wurden weich, Übelkeit setzte ein, und ich suchte mit Blicken nach einem Sitzplatz.
Da, endlich wurde ein Platz frei. Eine junge Frau schickte sich an, den Platz zu besetzen. Nein, sie bot ihn mir an.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte sie.
»Ich sehe doch, dass Sie lernen und das geht besser im Sitzen«, antwortete ich. »Ich kann ganz gut stehen.«
»Im Stehen kann ich aber besser meine Matheformeln auswendig lernen«, konterte sie.
Mir war das unangenehm. Auf der einen Seite wollte ich gerne sitzen, auf der anderen Seite will ich nicht das Gnadenbrot der Jugend.
»Bereiten Sie sich denn gerade auf eine Prüfung vor oder schreiben Sie heute eine Klausur?«
»Ach, das ist nur eine Klausur und eigentlich kann ich die Sachen auch.«
Da dachte ich, dass ich mich doch setzen könnte, denn inzwischen war mir so schlecht, dass ich am liebsten aussteigen wollte. Das Dumme war nur, dass sich während unseres höflichen Austauschs ein junger Mann breitbeinig auf den Platz gesetzt hatte, um den wir die Begehrlichkeiten abschätzten.
Am Nachmittag kaufte ich mir ein neues Fahrrad.