Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

NK_Tagblatt-KopfNr. 259 – Mittwoch, 04. November 1914
Wem gehören die aus Wunden entfernten Geschosse? Eine seltsame Frage taucht auf. Vor einiger Zeit wurde an einem Berliner kriegsärztlichen Abend eine Gewehrkugel gezeigt. Der Arzt, der die Kugel herumgehen ließ, schien des Glaubens zu sein, daß diese Kugel ihm gehöre. Das legt die Frage nahe, ob der Arzt, der aus einer Wunde ein Geschoß entfernt, Eigentum daran besitzt. Es ist, wie die Berliner »Aerzte=Korrespondenz« schreibt, auffallend, daß die Juristen bisher an die­sem Thema fast achtlos vorübergegangen sind, obwohl vor einigen Jahren ein ähnlicher Fall bereits die Gerichte beschäftigt hat. In den bulgarischen Spitälern war ein Streit zwischen Aerzten und Soldaten um die aus den Wunden entfernten Geschosse entstanden. Juristen stellten damals fest, daß der Arzt keinen Anspruch darauf habe. Er kann die Kugel nicht als Honorar für eine Operation fordern. Auch nicht kraft Okkupationsrecht. Wie aber entsteht das Eigentum des von ihr getroffenen Kämpfers? Man kann doch nicht gut von einer Eigentumsübergabe reden. Nur daß die Kugel sich im Besitze des Verwundeten befand, ist sicher. Nach allgemeinen juristischen Grundsätzen steht fest, daß der Operateur kein Eigentum an der entfernten Kugel hat. Diese Feststellung wird den Arzt zunächst überraschen; aber alle Juristen, die zu Rate gezogen wurden, stimmen darin überein, daß das entfernte Geschoß dem Arzt sicher nicht gehört; ob im übrigen der Militärverwaltung oder dem Verwundeten, mögen die Juristen entscheiden.

Nr. 263 – Sonntag, 08. November 1914
Weitere Verdeutschun­gen in der Amtssprache. Die Erstarkung unseres nationalen Selbstbewußtseins und unseres Sprachgefühls, die der Krieg gebracht hat, hat unsere Behörden veranlaßt, auch das »Amtsdeutsch« von überflüssigen Fremdwörtern zu reinigen. In den Bekanntmachungen der Regierung wird neuerdings z.B. nicht mehr von einem Auktionator gesprochen, sondern von einem Versteigerer. Es gibt keine Kandidaten mehr, sondern nur noch Bewerber und Bewerberinnen. Hoffentlich hören wir bald von weiteren Verdeutschungen.

Nr. 266 – Donnerstag, 12. November 1914
Die Verteuerung der Heringe beklagt in einer längeren Zuschrift an uns ein hiesiger Inhaber eines Spezial=Heringsge­schäfts. Er schreibt u.a.: »Ich betreibe mein Geschäft seit drei Jahren und beziehe meine Waren von den größten Stettiner, ab und zu auch Berliner Firmen, jedoch solche kolossal hohen Preise, wie jetzt verlangt werden, sind bisher nie bezahlt worden. Einesteils ist dies wohl auf den durch den Krieg sehr erschwerten Fang, andernteils aber darauf zurückzuführen, daß die Groß=Fischereien die entstandene Notlage ausnutzen. Dabei wird nur gegen Kasse geliefert. Mit Rücksicht darauf, daß der Hering bei uns ein wichtiges Volksnahrungsmittel ist, sollte gegen die ungerechtfertigte Preistreiberei des Großhandels seitens der Behörden beizeiten eingeschritten werden.«

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1914 übernommen.
Die Originale befinden sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Sprache als Propagandainstrument

Eindeutschungskampagne zur Stärkung des Nationalgefühls

Die patriotische Begeisterung am Beginn des Ersten Weltkrieges schlug sich auch im Sprachgebrauch nieder. Der Kampf gegen das »Fremdwörterunwesen«, zumal wenn es sich um die Sprache der Feinde des Reiches handelte, erfasste das gesamte öffentliche Leben. Angefacht von hohen Militärs, Politikern, Beamten sowie der bürgerlichen Presse kam es zu einer regelrechten »Verdeutschungskampagne«. Fremdsprachige Wörter wurden übersetzt, eingedeutscht oder erfunden.

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wörterbuch.Foto: Deutsches Historisches Museum, Berlin

In Deutschland halfen Wörterbücher der Synonyme bei der systematischen Verdeutschung alltäglicher Begriffe. So sollten Verliebte kein »Rendezvous« mehr vereinbaren, sondern zu einer Verabredung zusammenfinden, verabschieden sollten sie sich nicht mit »Adieu«, sondern mit Auf Wiedersehen. »Boutiquen« wurden zu Modegeschäften, aus »chic« wurde flott. Die Bezeichnung »cakes« für Kleingebäck wurde kurzerhand zu Keks eingedeutscht.
Auch ausländisch klingende Markennamen, wie die ausgesprochen kosmopolitisch klingenden Zigarettenmarken wurden ersetzt. Aus der beliebten Zigarettenmarke »Duke of Edinbourgh« wurde »Flaggengala«.
Stilblüten waren dabei an der Tagesordnung. Aus dem Begriff »Masseur« sollte Muskelkneter, aus »Munition« Schießbedarf und aus »Rouladen« Fleisch-Backröllchen werden.
Der nationale Überschwang führte aber auch bei anderen beteiligten Staaten zu Umbenennungen. In England benannte sich der englische Zweig der von Battenbergs 1917 auf Wunsch von König Georg V. (1865-1936) in »Mountbatten« um. Das englische Königshaus, das bis 1917 »Saxe-Coburg and Gotha« hieß, firmierte plötzlich als »Haus Windsor«, benannt nach seinem englischen Hauptsitz.

mr