Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllner Tageblatt, Sonntag, 1.2.1925
Gegen unerlaubtes Platzfreihalten in den Zügen. Die Reichsbahndirektion Berlin nimmt Anlaß, die Bahnhofs= und Zugbeamten erneut anzuweisen, gegen die schon öfter gerügten Ungehörigkeiten im Reiseverkehr mit aller Strenge vorzugehen. Insbesondere soll die Mitnahme zu umfangreichen Handgepäcks in die Abteile, gegen das Betreten der Abteile durch Nichtreisende, um Plätze freizuhalten, und gegen die mißbräuchliche Benutzung höherer Wagenklassen eingeschritten werden. Die für die Uebertretungen festgelegten Zuschläge und Strafen sind unnachsichtlich einzuziehen.

Neuköllnische Zeitung, Montag, 16.2.1925
Künstlerelend. Gestern nachmittag wurde in Oberschöneweide an der Einmündung der Scharnweberstraße in den Woldowplatz ein Mann in mittleren Jahren in völlig erschöpftem Zustande aufgefunden und nach dem Königin=Elisabeth=Hospital geschafft. Hier stellte der Arzt Entkräftung infolge Unterernährung fest. Es handelt sich um einen Kunstmaler, der im tiefsten Elend lebt.

Neuköllnische Zeitung, Mittwoch, 18.2.1925
Sven Hedin 60 Jahre alt. Eigentlich heißt er jetzt Sven von Hedin, denn er ist nach der Heimkehr von einer seiner großen Forschungs= und Entdeckungsreisen vom König von Schweden in den Adelstand erhoben worden. Die vielen aber, die seine prächtig geschriebenen Bücher über gefährliche Entdeckungsfahrten durch halb Asien, vor allem aber seine Reiseschilderungen aus Tibet, dem Lande des Dalai=Lamas, mit Bewunderung und Begeisterung lesen, kennen ihn nur ohne das Wörtchen »von«. Am 19. Februar feiert dieser große Weltfahrer, den hervorragende Geographen als den weitaus bedeutend­sten Entdeckungsreisenden unserer Zeit bezeichnen, seinen sechzigsten Geburtstag, und es liegt vor allem uns Deutschen ob, an diesem Tage seiner herzlich zu gedenken. Sven Hedin hat in seinen jungen Jahren unter der Leitung des verstorbenen Geographen und Chinaforschers Ferdinand von Richthofen den Grund zu seinem außerordentlichen geographischen Wissen in Deutschland gelegt und hat sich später bei allen Gelegenheiten bedingungslos für Deutschland eingesetzt. Unvergessen soll es ihm vor allem bleiben, daß er sich auch während des Weltkrieges, als uns unsere besten Freunde von früher im Stich ließen, allen Anfeindungen und Demütigungen zum Trotz auf die deutsche Seite gestellt hat.

Neuköllnische Zeitung, Donnerstag, 19.2.1925
Die Radfahrer gegen die neue Verkehrsordnung. In einer stark besuchten Vertreterversammlung aller Fachverbände des Radfahrwesens wurden Protestmaßnahmen gegen die vom 1. März ab in Aussicht genommenen Straßensperrungen beschlossen. In der einstimmig angenommenen Entschließung heißt es u. a.: Die Gefährlichkeit und Rückständigkeit des Verkehrswesens wird nicht dadurch gebessert, daß die für alle übrigen Fuhrwerke ungefährlichen und die Straßendämme am allergeringsten belastenden Zweiräder an der Hand geführt oder getragen werden sollen. Kein Radfahrer fährt in verkehrsreichen Straßen zu seinem Vergnügen, sondern weil Notwendigkeiten ihn zwingen, das Fahrrad als Fortbewegungsmittel zu benutzen. Wirkliche Mißstände mögen rücksichtslos bekämpft werden; aber die organisierten Radfahrer verbitten sich entschieden, in ihrer Bewegungsmöglichkeit völlig zu Unrecht behindert zu werden.

Neuköllnische Zeitung, Freitag, 27.2.1925
Von Staaken nach dem Tempelhofer Feld. Der Deutsche Aero=Lloyd in Staaken hat gestern nachmittag seinen Umzug nach dem Zentral=Flughafen auf dem Tempelhofer Feld vollzogen. Nachmittags 2 Uhr stieg vom Staakener Flugplatz ein Geschwader von vier Flugzeugen auf, das für die Durchführung des Leipziger Messeverkehrs und für die Veranstaltung von Sonderflügen bestimmt ist. Damit ist die offizielle Inbetriebnahme des Berliner Flughafens in Tempelhof durch den Deutschen Aero=Lloyd erfolgt. Die Flugzeuge verkehren von heute ab zwischen Berlin und London. Abflug und Landung werden nunmehr lediglich auf dem Tempelhofer Feld erfolgen.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1925 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Per Kamel durch Zentralasien

Sven Hedin, der letzte große Landreisende der Geschichte

Sven Hedin wird am 19. Februar 1865 in Stockholm geboren. Nach dem Abitur tritt er seine erste Reise durch Persien an. Der Kampf gegen die weißen Flecken auf der Landkarte wird sein Lebensziel.

Sven Hedin auf einem Trampeltier in Zentralasien um 1900.     Foto: historisch

Zwischen 1894 und 1909 unternimmt er drei für damalige Verhältnisse waghalsige Expeditionen nach Zentralasien, in bis dahin praktisch unbekannte Gebiete. Er erforscht Innerasien, besonders Tibet, richtet meteorologische Stationen ein, entdeckt die Quellen des Indus und des Brahmaputra und überquert zwölf Mal den bis dahin unbekannten Transhimalaya.
1902 wird Hedin als letzter Schwede überhaupt geadelt.
Zur wissenschaftlichen Auswertung der Expeditionen kommt Hedins Geschick, populäre Reisebücher zu schreiben, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt werden und ihn berühmt machen.
Nach seiner vierten und letzten Expedition nach Zentralasien 1935 reist er für eine Vortragstournee nach Deutschland, wo inzwischen die Nationalsozialisten die Macht ergriffen haben. Sven Hedin lässt sich von der Ideologie des Nationalsozialismus faszinieren. Er schreibt Texte, die den deutschen Imperialismus und die Hitler-Diktatur verherrlichen, lässt sich mit dem »Führer« und anderen Nazi-Größen ablichten. 1944 nimmt er einen Ehrendoktortitel der Universität München an, was ihm in Schweden bis zu seinem Tod 1952 nicht verziehen wird. Das ist die Tragödie des »schwedischen Marco Polo«.

mr