Ach, Du lieber Engel!

Dann nehme ich mal das Auto von Fred Haase

Meine Nachbarin ist verreist. Ihr Angebot, dass ich während ihrer Abwesenheit ihr Auto nutzen kann, wurde von mir freudig zur Kenntnis genommen. Gestern nun wollte ich das große Kaufhaus am Hermannplatz besuchen. Wenn ich eine federleichte Depression erahne, fahre ich immer an Orte, die Elend und Stillstand präsentieren. Das baut mich auf, ich spüre sofort positive Energie. Ein Warenhaus im Wachkoma, der Görlitzer Park, auch Baustellen ohne Bauarbeiter sind Stimmungsaufheller für mich. Dann spüre ich, wie gut es mir geht.

Illustration von Felina Matzdorf

Da es regnete, beschloss ich, das gepflegte rote Auto zu nehmen, anstatt wie sonst den ÖPNV. So spare ich Zeit und Nerven. Nach dem Anschnallen sah ich den Haftzettel am Lenkrad: Bitte Tanken! Super E10! Wenig Benzin! Gute Fahrt! Okay, also erst einmal für 72,35 Euro tanken. Als ich wenig später in die Buschkrug­allee einbog, stand ich ordnungsgemäß in einer langen Reihe von Karossen. Ein Müllauto blockierte die Fahrbahn. Als ich dieses Hindernis nach 15 Minuten passierte, wunderte ich mich, wie entspannt die Müllmänner, Entschuldigung, die Fachkräfte für Kreislauf- und Abfallwirtschaft, aussahen. Ich näherte mich nun mit Tempo 20 km/h einer großen Kreuzung. So konnte ich mich endlich wieder mit Mathematik beschäftigen. 22 Autos standen vor mir, pro Grünphase konnten zwei die Kreuzung passieren. Ich stoppte die Zeiten auf meinen Smartphone. Also pro Ampelphase -2 = 0,25 Minuten. Meine Wartezeit würde also 2,75 Minuten betragen. Mein alter Kumpel Rudi vom Statistischen Bundesamt hat dann immer sofort Zahlenmaterial in seinem Parietal- und Frontalhirn abrufbereit, würde mich sofort pathetisch mit singender Stimme erstaunen: »Wusstest du, dass ein Autofahrer statistisch gesehen zwei Wochen seines Lebens vor roten Ampeln verbringt?« Um seine Überlegenheit zu präsentieren, erhebt er dann sein Stimmpotential und doziert: »Der Mensch verbringt drei Monate Lebenszeit beim Arzt und sechs Monate auf der Toilette!« Dagegen protestiere ich: »So lange bin ich nie auf Klo!« »Statistisch, mein Lieber!«
Ich hatte nun mit all diesen Gedanken die Kreuzung glücklich passiert und stand in der Karl-Marx-Straße. Plötzlich, kurz vor der Rollbergstraße, stand ein Polizeiwagen quer auf der Straße. Ich sah staunend einen Demonstrationszug um die Ecke biegen. Nachdem ich umweltbewusst den Motor abgestellt hatte, hörte ich mir den Verkehrsfunk an. Die Demo wurde angesagt, versehen mit dem Hinweis: Planen sie 45 Minuten mehr Fahrzeit ein.« Ich konnte die Protestplakate schwer entziffern, weil der Blickwinkel durch einen Lieferwagen vor mir eingeschränkt war. Das erschwerte mein Verständnis für die Demonstranten.
Nach rund 20 Minuten im mittlerweile etwas frostigen Innenbereich des Fahrzeugs bekam ich plötzlich ein Hungergefühl. Zum Glück war auf der Höhe der Fahrertür ein vegetarischer Dönerstand. Ich eilte voller Freude zum Erwerb von etwas Essbarem in das Geschäft. 15 Minuten später tropfte leider etwas von der Knoblauchsoße auf das Sitzfell des Fahrersitzes. Ich konnte aber die Reinigung nicht vornehmen, da sich die Fahrzeugschlange in Bewegung setzte.
Die Fahrt mit dem ÖPNV hätte exakt 17 Minuten gedauert. Es machte mich übertrieben nachdenklich, als ich nach 1 1/2 Stunden den Wagen im Parkhaus des Kaufhauses parkte.
Das frustrierende Erlebnis war aber die Rückfahrt. Auf Höhe der Weserstraße meldete der Bordcomputer einen Defekt am Reifen. Ich musste den ADAC kontaktieren und war ziemlich aufgeregt. Meine Enttäuschung war riesengroß, als ich staunend feststellte, dass Gelbe Engel Schuhgröße 45 und einen Vollbart haben. Ich hätte so sehr ein himmlisches Wesen gebraucht.