Eine Betrachtung über das Altern in Würde
Emmi ist eine kleine gedrungene Frau mit weißen kurzen Haaren, welche ihr strähnig auf der Stirn liegen. Sie trägt einen weiten dunklen Parka, dazu Handstulpen und eine gestrickte Mütze. Mit Herz und Schnauze klappert sie jeden Freitag und Samstag die Schlangen vor den bekannten Konzerthäusern ab, auf der Suche nach Pfandflaschen, um sich ihre Rente aufzustocken.
Emmi hatte als Sekretärin gearbeitet bis ihre Kinder zur Welt kamen, seitdem hat sie sich dem Hausfrau- und Mutterdasein gewidmet. Ihr Mann verdiente genug, und sie hatten ein zufriedenes Leben mit den einen oder anderen Annehmlichkeiten.
Wenn sie von den Urlaubsreisen an den Gardasee erzählt, wird ihr Gesichtsausdruck ganz weich, und ihre Augen fangen an zu funkeln.
Ihr Mann erkrankte an Demenz, und die Kinder gründeten ihre eigenen Familien in anderen Städten.
Gelegentlich telefonieren sie, für mehr ist im Alltag keine Zeit.
Emmi traut sich nie zu sagen, wie es ihr wirklich geht. Sie möchte nicht, dass sich die Kinder Sorgen machen, die haben es auch nicht leicht.
Als die Krankheit des Mannes sich verschlechterte, wurde ein Heimplatz unausweichlich, die Ersparnisse schrumpften.
Als ehemalige Hausfrau erhält sie nur die Grundsicherung. Bis vor einem Jahr kam sie über die Runden, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Durch die Inflation und die zusätzlichen Teuerungen reicht das Geld nicht aus. Eigentlich kann sie sich die Miete für ihre kleine Wohnung auch nicht mehr leisten, das Konto ist jeden Monat stärker belastet. Sie mag gar nicht daran denken.
Seit ein paar Monaten nimmt Emmi das Essensangebot der Berliner Obdachlosenhilfe wahr, um ab und zu eine warme Mahlzeit zu erhalten.
Sie hatte sich dort mit einem Gast unterhalten, der auf das Sammeln von Pfandflaschen angewiesen war. Er nahm sie bald mit zu seinen Touren.
Seitdem ist sie jedes Wochenende unterwegs und läuft mit ihrem Einkaufswagen die wartenden Menschen auf und ab. Mit ihrem Berliner Dialekt und einem flotten Spruch auf den Lippen kommt sie schnell mit den Leuten ins Gespräch und hat auch öfter den einen oder anderen fürsorglichen Tipp für die Jugend.
Einige Konzertgänger sieht sie öfter und sie heben ihre leeren Flaschen extra für sie auf, dazu etwas oberflächliches Geplänkel. Wie es Emmi geht oder ob sie etwas anderes braucht außer acht Cent in Flaschenform fragt nie jemand.
Wenn alle Gäste die Veranstaltungshalle betreten haben, macht Emmi Feierabend.
Sie bringen die Flaschen weg und teilen den Gewinn. Es ist nie wirklich viel und hilft dennoch ein wenig weiter.
Emmi geht nach Hause in ihre kleine und aufgeräumte Wohnung, isst noch etwas und legt sich zu Bett. Vor dem Einschlafen schenkt sie dem Bild ihres Mannes auf dem Nachttisch einen langen und wehmütigen Blick, wünscht ihm eine gute Nacht und löscht das Licht aus.mg