Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllnische Zeitung, Dienstag, 2.12.1921
Rasieren zwei Mark. Infolge der dauernd steigenden Preise auf allen Gebieten und der auch dadurch hervorgerufenen Lohnforderungen der Gehilfen sehen sich die Friseure von Groß=Berlin gezwungen, ihre Preise für die Bedienungen bis zu 40 Prozent zu erhöhen. Der Mindestpreis für Rasieren beträgt jetzt 2 Mark, für Haarschneiden 6 Mark.

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 20.12.1921
Der Verbrennungstod der 40 000 Schundhefte auf dem Tempelhofer Felde. Der Rufer im Streit gegen die Schundliteratur in Neukölln, Stadtrat Schneider, hatte kürzlich 40 000 der schwarzen Schundseelen in seine Gewalt bekommen und sie zum Feuertod verurteilt. So sah man denn am Sonntagnachmittag einen Trauerzug von ungefähr 1000 jugendlichen Teilnehmern unter Vorantritt eines Filmoperateurkorps zum Tempelhofer Felde pilgern, um der Einäscherung der Lieblinge von gestern beizuwohnen und der Grab= und Brandrede des Stadtrats Schneider zu lauschen. Der Richtplatz lag unglücklich. Es war ein Gelände, das einem Sumpfe ähnlich war. Man hatte geglaubt, es damit den papiernen Sündern unmöglich gemacht zu haben,dem Tode zu entrinnen: Oben das Feuer, unten im Sumpf der klebrige Lehm des Tempelhofer Feldes. Die Rechnung stimmte leider nicht. Der Wind wollte scheinbar nicht unbeteiligt sein. Er näselte und säuselte so heftig, daß es Dutzenden der Todeskandidaten gelang, unter seinem Schutze dem Scheiterhaufen zu entfliehen. Mitleidige Trauergäste nahmen sich der erst verstoßenen Armensünder wieder an, bargen sie unter ihren Kleidern und werden sie sicher weiterhin pfleglich behandeln. Der größere Teil der zum Tode Verurteilten wurde jedoch durch Feuermänner in dem Freiluftkrematorium richtig verbrannt. Die Kosten dieses Leichenbegängnisses sind nicht geringe. Wäre die Sache durch einstampfen nicht ebensogut, vielleicht noch reibungsloser, vonstaten gegangen? Dann hätten wenigstens die jetzt zu Asche gewordenen Schundhefte eine fröhliche Auferstehung als Schreibhefte gefunden.

Neuköllner Tageblatt, Mittwoch, 21.12.1921
Natronlauge statt Selterwasser. Montag abend erschien in einer Bierquelle in der Potsdamerstraße ein russischer Schneidergeselle, der sich Abendessen und dazu eine Flasche Selterwasser bestellte. Nachdem er einen herzhaften Schluck genommen hatte, stürzte er bewußtlos zu Boden, während ihm ein Blutstrom aus dem Munde quoll. Der Erkrankte wurde nach dem Elisabeth=Krankenhaus gebracht, wo er mit schweren inneren Verbrennungen daniederliegt. Die Untersuchung ergab, daß man ihm statt einer mit Selters gefüllten Flasche eine solche gegeben hat, die Natronlauge enthielt. Die polizeilichen Ermittlungen müssen die Schuldfrage klären.

Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 22.12.1921
Kauft heimische Blumen. Der Verband Deutscher Hausfrauenvereine wendet sich in einem offenen Brief an die Frauen und Mädchen mit der Bitte, keine ausländischen Blumen zu kaufen und Blumenspenden abzulehnen, die mit deutschem Geld an das Ausland bezahlt, das Bestehen der deutschen Blumenzucht in Frage stellen und deutscher Arbeit den Existenzboden entziehen. Die deutschen Treibhäuser liefern schon jetzt reichliche Mengen an Hyazinthen, Veilchen und Maiglöckchen, so daß es wirklich nicht zu schwer sein dürfte, auf ausländische Blumen wie Anemonen, Ranunkeln, weiße und gelbe Margeriten, Reseda, Levkojen und manche Rosen zu verzichten, zumal ja jetzt in der Weihnachtszeit das Tannengrün der schönste Zimmerschmuck ist.

Neuköllner Tageblatt, Freitag, 23.12.1921
Britz. Aus den Treibhäusern der Gärtnerei Stohr, Chausseestr. 154, sind in der Nacht zum 20. d. M. Chrysanthemen im Werte von 2000 M. gestohlen worden.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1921 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Scheiterhaufen auf dem Tempelhofer Feld

Feurige Entsorgung der »Schundliteratur«

Die erste Welle der »Schmutz- und Schund« Debatte setzte im deutschsprachigen Raum bereits zu
Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Die Bezeichnung »Schundliteratur« bezog sich auf minderwertige Trivialliteratur und Kitsch wie die millionenfach kursierenden Groschenhefte – Kolportageromane, Detektivgeschichten, Liebesromane. Als »Schmutz« wurde die moralisch verwerfliche Literatur mit eindeutig sexueller Ausrichtung bezeichnet.
Mit gigantischen Auflagen erreichten diese Druckerzeugnisse ab den 1870er Jahren eine mehr und mehr lesefähige Gesellschaft, der trivialliterarische Sektor wies zeitweise höhere Umsätze und Beschäftigungszahlen auf als die gesamte restliche Branche. Das Volk der Dichter und Denker las Buffalo Bill.
Dagegen begehrten alle möglichen Initiativen auf, behördliche und schulische, kirchliche und gewerkschaftliche, Groschenromane wurden konfisziert und publikumswirksam vernichtet.

Stadtrat Schneider hält eine Rede.    Foto: Agentur für Bilder zur Zeitgeschichte Berlin

Die Verbrennung der »Schundhefte« auf dem Tempelhofer Feld erfolgte im Rahmen einer »Neuköllner Jugendpflegewoche«, die der »Bekämpfung der Schundliteratur neue Wege weisen, bei der Jugend den Sinn für wahre Kunst wecken und ihr die Liebe zum Sport einpflanzen« sollte, wie die Neuköllnische Zeitung schrieb. Die bereits Wochen vorher eingesammelten Hefte wurden zur Abschreckung im Rathaus ausgestellt, als Pendant dazu die »empfehlenswerten Jugendschriften«.
Eine öffentliche Diskussion über diese Veranstaltung blieb weitgehend aus. Die Presse monierte lediglich, dass in Zeiten der Papierknappheit das Einstampfen und die anschließende Wiederverwendung des Papiers zielführender gewesen wäre.

mr