Neue Flüchtlingsunterkunft in Neukölln

Anwohner und Schulen sind gut auf die neuen Mitbürger vorbereitet

spaethstrBürger  schützen das Asylantenheim vor Neonazi-Demonstranten.Foto: ro

Es geht doch! Was lange versprochen war, wird nun endlich wahr. Auf dem Gelände vom »Möbelhaus Krieger« ist eine Flüchtlingsunterkunft entstanden, die im März eröffnet wird. Das Gelände, das früher bezirkseigen war, wurde vom Möbelhaus vorerst bis Ende nächsten Jahres zur Verfügung gestellt.
Seit Wochen werden die Arbeiten von Nazis beäugt, die diese Einrichtung verhindern wollen. Dank der Anwohner sowie konfessioneller und öffentlicher Einrichtungen ist für die neuen Gäste gesammelt worden. Die Stimmung gegenüber den Neuankömmlingen ist gut, denn alle wissen, dass diese Menschen Schreckliches erlebt haben und zukünftig vor möglichen Übergriffen der Nazis geschützt werden müssen.
Damit kommen zu den bestehenden 29 Plätzen in Neukölln 400 weitere hinzu. Die Bildungsstadträtin Franziska Giffey rechnet mit ungefähr 100 schulpflichtigen Kindern. Obwohl weder Altersstruktur noch Bildungsstand der jungen Menschen bekannt ist, haben sich fünf Neuköllner Grundschulen und drei Oberschulen bereit erklärt, die Schüler aufzunehmen.
Die Kinder kommen in Willkommensklassen. Das sind Lerngruppen, die für alle Kinder ohne Deutschkenntnisse offen sind. Da sich die Klassen nicht nur aus Flüchtlings-, sondern auch aus Migrantenkindern zusammensetzen, erhofft sich der Bezirk weniger Ausgrenzung der Flüchtlinge.

CDU sucht Standorte

Wohin mit den Asylsuchenden?

Bei der Klausurtagung der CDU am 1. März war die Flüchtlingsproblematik in Neukölln durchaus ein zentrales Thema. »Wir bekennen uns zur gesamtstädtischen Verantwortung des Bezirkes Neukölln und sprechen uns für die Aufnahme und die Unterbringung von Asylsuchenden in Neukölln aus. In Neukölln spielt dabei insbesondere die Standortfrage eine wichtige Rolle. Vor dem Hintergrund der weiter steigenden Platzbedarfe darf dabei kein möglicher Standort im Voraus ausgeschlossen werden«, erklärt Gerrit Kringel, Fraktionsvorsitzender in der BVV Neukölln.
Ausgehend davon, dass Neukölln auch  weiterhin Standorte für Flüchtlinge finden muss, wurden Vorschläge erarbeitet. Das ehemalige Gebäude von C&A und die alte Post in der Karl-Marx-Straße, die Freifläche zwischen den S-Bahnhöfen Neukölln und Hermannstraße und der ehemalige Friedhof der St. Thomas-Gemeinde an der Hermannstraße könnten als Fläche für die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften dienen. Als temporäre Zwischennutzung kommen die Freiflächen am Campus Rütli sowie auf dem Tempelhofer Feld infrage. So das Resumé der Klausurtagung der  Neuköllner CDU zur Asylpolitik.

ro

 

Statt Rücktrittsforderung Anti-Nazi-Protest

BVV solidarisiert sich mit Anne Helm

Nazidemo_Björn_Smerskand!Protest.                     Foto: Björn Smerskand

Lautstark ging es auf dem Rathausvorplatz zu, als zur Bezirksverordnetenversammlung am 27. Februar einige hundert Demonstranten auf ein Häuflein NPD-Anhänger trafen. Die wollten gegen die Bezirksverordnete Anne Helm von den Piraten demonstrieren, die sich an Protesten gegen den Aufmarsch der Nazis in Dresden anlässlich des Gedenkens an die Bombardierung der Stadt beteiligt hatte. Im Femenstil hatte sie »Thanks Bomber Harris« auf ihren nackten Oberkörper geschrieben. Gemeint war Arthur Harris, der als Oberbefehlshaber der britischen Bomberstaffeln mitverantwortlich war für die Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg. Massive Angriffe seitens einiger Presseorgane folgten, sie erhielt Morddrohungen.
Die Nazis, die durch ein großes Polizeiaufgebot geschützt wurden, kamen mit ihren Tiraden nicht gegen den lautstarken Protest der Gegendemonstranten an und verließen den Platz nach einer guten halben Stunde wieder.
Anne Helm, der wegen ihrer Aktion die Verhöhnung der Bombenopfer vorgeworfen wurde, verlas zu Beginn der BVV eine Erklärung. »Ich bedauere meine Aktion und wünsche, ich könnte sie ungeschehen machen. Es war nie meine Intention, die Gefühle von Menschen zu verletzen, schon gar nicht die von Kriegsopfern«, sagte sie. Sie werde ihr politisches Engagement aber trotz der Anfeindungen fortsetzen.
Anschließend wurde Bürgermeister Heinz Buschkowsky sehr deutlich. »Es kann nicht sein, dass ein Mitglied der BVV an einer Demonstration teilnimmt und anschließend mit dem Tod bedroht wird«, sagte er. »Allen, die hier sitzen, gehört der Schutz des Hauses«.Und an die Adresse der Demonstranten auf dem Rathausplatz: »Das letzte Mal haben die Nazis in dem Maß dieses Haus bedroht als Bürgermeister Scholz aus dem Amt gejagt wurde«.

Zwischen Demo und Volksbegehren

Grüne Kritik an den Äußerungen des Baustadtrats Blesing

Die CDU hatte im Vorfeld noch den Rücktritt Anne Helms als Bezirksverordnete gefordert. In der BVV brachten CDU und SPD dann aber eine deutlich entschärfte Entschließung ein, in der Anne Helms Aktion ausdrücklich missbilligt, die gegen sie gerichteten Drohungen aber ebenfalls ausdrücklich verurteilt wurden. Der Antrag wurde ohne weitere Diskussion angenommen, lediglich die Grünen enthielten sich der Stimme. Sie waren der Ansicht, da Anne Helm als Privatperson an dieser Demonstration teilgenommen habe, habe diese Diskussion in der BVV überhaupt nichts zu suchen.

Umso mehr Diskussionsbedarf gab es bei der großen Anfrage der Grünen zum Vorwurf der Unterschriftenfälschung beim Volksbegehren für das Tempelhofer Feld, den Baustadtrat Thomas Blesing kurz vor Schluss des Volksbegehrens erhoben hatte. Jochen Biedermann von den Grünen erklärte die Vorwürfe zu einer Geisterdebatte ohne konkrete Anhaltspunkte oder Belege, die auf  Fälschungen hindeuten würden und forderte von Blesing eine Entschuldigung. Er habe, erklärte Blesing dazu, aus der Senatskanzlei Informationen erhalten, die ihn veranlassten, sofort an die Öffentlichkeit zu gehen.
Besonders kritisierte er die Landeswahlleiterin: »Dass man seitens der Senatsverwaltung auf vorgesehene Eingaben verzichtet, halte ich für unzulässig«, sagte er. »Ich wünsche, dass wir nicht irgendwann ein Volksbegehren haben, das dem Ergebnis des letzten Begehrens in der Schweiz entspricht«, erklärte er in seinem Schlusswort.

mr

 

Mitbestimmen, was vor der eigenen Haustür passiert

Felix Herzog will Bürger und Politiker aufrütteln

Felix_HerzogHerzog bei der politischen Arbeit.    Foto: mr

Als Querulant und Wutbürger wurde er mittlerweile betitelt. Felix Herzog, ein Neu-Neuköllner, der sich den Rummel um seine Person vor einigen Wochen sicherlich selbst noch nicht erträumt hat. Seit er das Volksbegehren zur Abwahl des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit vorbereitet, geht er durch die Presse und eckt auch bei vielen an, die ihn nur für einen Menschen halten, der einfach mal gegen alles ist.
Den Gründer des Internetportals »PlusWG – Vermittlungsbüro von Wohngemeinschaften für Leute ab 50 Jahren» zog es vor drei Jahren aus Weilheim in Oberbayern nach Berlin. Neukölln hatte er sich dabei nicht ausgesucht, weil es hier gerade so »hip« ist, sondern eher zufällig, weil viele seiner Freunde bereits hier lebten und er hier eine passende Wohngemeinschaft fand. »Mit einem gewissen Stolz«, sagt er, sei er Neuköllner.
Politik ist für ihn eine Ausdrucksform, so wie für andere die Kunst. Er möchte etwas bewirken, politische Missstände aufdecken und zu Veränderungen beitragen.
In Berlin habe er mit vielen resignierten Menschen gesprochen, die sich nicht trauen sich einzumischen und den Glauben daran verloren haben, dass sich jeder an der Politik beteiligen könne. »Ich möchte den Leuten durch relativ einfache Wege zeigen, dass man doch etwas bewegen kann«, sagt Herzog.
Sich einmischen, Gesicht zeigen, für politische Veränderungen kämpfen, das macht Herzog bereits seit seiner Schulzeit. Er möchte beweisen, dass es keines politischen Mandats bedarf, um Veränderungen herbeizuführen.
Parteipolitisch ist er nicht gebunden. »Bei dem, was ich machen will, würde mich eine Partei nur einschränken«, ist seine Begründung. Seine Initiative nennt er »Außerparlamentarische Ergänzung« (APE). Damit will er ausdrücken, dass er sich nicht in Fundamentalopposition zur Regierung und zum Parlament befindet. Deren Arbeit akzeptiert und respektiert er durchaus, aber daneben möchte er »ein drittes Standbein« aufbauen, um den Bürgern mehr direkte Einflussmöglichkeit auf Entscheidungen der Politik zu geben. »Die Leute sollen mitbestimmen können, was vor der eigenen Haustür passiert.«
Die Politiker andererseits sollen dazu veranlasst werden, sich mehr mit den Problemen der Bürger zu beschäftigen. »Wir wollen mit den Abgeordneten ins Gespräch kommen.« Die halten sich bisher allerdings noch eher zurück.
Mehr Bürgerbeteiligung bedeutet für Felix Herzog dann aber auch, dass sich der Kreis derer erweitert, die mitentscheiden können. Daher setzt er sich dafür ein, dass hier lebende Ausländer das Wahlrecht bekommen. Er ist davon überzeugt, dass die Möglichkeit, an politischen Entscheidungen mitzuwirken, zu einer größeren Integrationsbereitschaft der hier lebenden Ausländer führen würde. Andererseits erwartet er dadurch auch ein größeres Interesse der Politik an den Problemen der Ausländer, wenn sie zu Wählern werden.
Bei der Unterschriftensammlung für das Volksbegehren Tempelhofer Feld war er beeindruckt über das Erstaunen vieler ausländischer Mitbürger, die nicht unterschreiben durften. »Ich hörte Sätze wie: ‘Ja, aber ich lebe doch schon seit zwei Jahren hier, dies ist meine Heimat, wieso darf ich nicht mitentscheiden?‘ Das war schon krass.« Berlin könnte ein interessantes Versuchsfeld für neue politische Ideen werden, davon ist er überzeugt, und daran möchte er mitwirken.
Er höre viele Stimmen, die sagen, dass zu viel falsch laufe in dieser Stadt und mit dieser Regierung. Denen will er mit seinem Volksbegehren zur Abwahl des Regierenden Bürgermeis­ters Gehör verschaffen. 

km/mr

Kein Wasserbecken auf dem Tempelhofer Feld

Verwaltungsgericht gibt Eilantrag des BUND gegen Parkplanung statt

WasserbeckenNoch kein Badetümpel für Ente & Co. Foto: mr

Das Berliner Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage des Berliner Landesverbandes des »Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland« (BUND) gegen die umstrittene Baugenehmigung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt für den Bau des Wasserbeckens, der geplanten Aufschüttung einer »Landform« zwischen den beiden Landebahnen und den Bau eines Rundweges auf dem Tempelhofer Feld angeordnet. Der »BUND Berlin« hatte im November Klage gegen die Bauvorhaben eingereicht, da die im Umwelt- und Planungsrecht vorgesehene Öffentlichkeitsbeteiligung und Prüfung von Alternativen missachtet worden sei und insbesondere Landform und Rundweg zu gravierenden Eingriffen in wertvolle und gesetzlich geschützte Biotope führen würden.
Tilmann Heuser, Landesgeschäftsführer des »BUND Berlin e.V.«: »Mit dem heutigen Beschluss bestätigt das Gericht unsere grundlegende Kritik an der Parkplanung für das Tempelhofer Feld. Die für Umwelt und Naturschutz zuständige Oberste Landesbehörde missachtete mit ihrer Baugenehmigung die Vorgaben aus dem Umwelt-, Planungs- und Naturschutzrecht, um den umstrittenen landschaftsarchitektonischen Entwurf für die Parkplanung zu realisieren.«
Der »BUND« fordert den Berliner Senat dazu auf, die Baugenehmigung für Wasserbecken, Landform und Rundweg zurückzuziehen und endlich ein offenes und transparentes Verfahren für die Weiterentwicklung der einzigartigen Freifläche zu starten. Tilmann Heuser: »Bürgerbeteiligung im 21. Jahrhundert bedeutet nicht nur, dass Bürgerinnen und Bürger in zahlreichen Veranstaltungen Planungen kommentieren dürfen. Es müssen auch ernsthafte Alternativen hinsichtlich des Ob und Wie offen und transparent diskutiert, gesetzliche Regelungen zum Erhalt des wertvollen Natur- und Erholungsraumes konsequent beachtet werden.«
Insofern erwartet der »BUND Berlin« auch, dass in einem alternativen Gesetzentwurf des Berliner Abgeordnetenhauses zum Volksentscheid am 25. Mai nicht nur ein Teil der einzigartigen Freifläche geschützt, sondern auch für die geplanten Baufelder ein ergebnisoffenes Beteiligungsverfahren festgesetzt werde. Dabei müsse auch das »Ob« einer Bebauung insbesondere auf der Neuköllner Seite und entlang der Autobahn hinterfragt werden. 

pr

Ein dritter Weg für die Randbebauung gesucht

Viele Gruppen präsentieren ihre Ideen zum Feld

Bauen wollen sie alle auf dem Tempelhofer Feld, die einen mehr, die anderen weniger, aber mit dem Masterplan von Bausenator Müller ist trotzdem keiner so recht zufrieden.
Die Grünen hatten am 27. Februar zu einer Expertenrunde ins Abgeordnetenhaus geladen, um über die Möglichkeit eines dritten Weges zwischen den Forderungen der Bürgerinitiative »100% Tempelhofer Feld« und den Vorstellungen des Senats zu diskutieren. Ihr Plan ist es, beim Volksentscheid am 25. Mai einen parteiübergreifenden Gegenentwurf zur Wahl zu stellen.

thf_weiteWeite – noch ist sie unverbaut.                                        Foto: fh

»Gut läuft es für »Tempelhof 100«, schlecht für den Masterplan«, erklärte Aljoscha Hofman von »Think Berlin«. Es sei bisher vollkommen versäumt worden, über die Vernetzung der neu geplanten Stadtteile mit den an sie anschließenden Kiezen nachzudenken. Außerdem fehle ein Konzept für das alte Flughafengebäude.
Mario Hilgenfeld vom »Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen eV« (BBU) erklärte in schöner Offenheit, eine aufgelockerte Bebauung werde es nicht geben, das sei überhaupt nicht finanzierbar.
Staatssekretär Ephraim Gothe versicherte, dass im Gesetzentwurf, den die Koalition vorbereitet, der große Innenbereich als Freifläche festgeschrieben werde, an den Rändern aber gebaut werden solle. Er verstieg sich zu der Metapher des Feldes als Baum und der Randbebauung als lebensspendende Borke.
Christine Edmaier, die Präsidentin der Architektenkammer Berlin, ging noch einen Schritt weiter. Sie forderte, das Tempelhofer Feld zu einem Experimentierfeld für innovative Entwicklung zu machen. Dabei solle aber der Grünanteil nicht festgeschrieben werden, denn »dann kann man ja nichts mehr machen«. Jochen Brückmann von der IHK wiederholte die Behauptungen des Senats, ein Sieg der Bürgerinitiative bedeute 100 Prozent Stillstand, weil dann nichts mehr auf dem Feld verändert werden dürfe.
Lediglich Tilman Heuser vom »BUND« plädierte dafür, das Feld auch in Zukunft als Freifläche zu erhalten. Es sei ein einmaliges Gelände, um das Berlin von vielen Metropolen der Welt beneidet würde. Der Gesetzentwurf von »100% Tempelhofer Feld« bedeute im übrigen keineswegs Stillstand. Außerhalb der geschützten Wiesenflächen sei Platz für vielerlei Aktivitäten, ebenso für Sportplätze, Sanitäranlagen und dergleichen. Lediglich auf die Bebauung solle verzichtet werden.
Einig waren sich allerdings alle in der Einschätzung, dass es dem Einsatz der Bürgerinitiative zu verdanken sei, dass jetzt stadtweit über das Feld diskutiert werde. Viel wäre schon gewonnen, wenn noch einmal völlig neu geplant würde, dann aber auch mit echter Bürgerbeteiligung. 

mr

Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 59 – Mittwoch
11. März 1914
Frühjahrsmüdigkeit nennt man im Volke jenen schlaffen, körperlichen Zustand, der sich gewöhnlich noch vor dem kalendermäßigen Frühlingsbeginn einstellt und oft wochenlang anhält. Selbst kräftige Menschen, die sonst selten über Müdigkeit klagen, empfinden zu dieser Zeit, daß ihnen »Blei in den Gliedern liegt«, wenn sich dazu nicht gar rheumatische Schmerzen und Kopfschmerzen bemerkbar machen. Die Ursachen dieses körperlichen Mißbehagens, das auch noch in großem Schlafbedürfnis bei den einen, in Schlaflosigkeit bei den anderen seinen Ausdruck findet, liegen in der Veränderung der körperlichen Gewebe und Organe, welche sich auf die sommerliche Zeit vorbereiten. Sie dehnen sich zunächst aus. Die gleichzeitige Ausdehnung von tausend und abertausend kleinsten Einzelteilchen des Körpers ruft jedoch eine förmliche Revolution im Körper hervor, die die fühlbare Erschlaffung sehr begreiflich macht. Auch ist die Möglichkeit vorhanden, daß das Blut eine entsprechende Veränderung in der Zusammensetzung wie im Umlauf erfährt. Schwächliche Menschen sollten sich jetzt vor allem Ueberhasten besonders hüten und ab und zu ein paar Minuten zwischen der Arbeit ausruhen.

Nr. 72 – Donnerstag
26. März 1914
Neue Rohrpostverbindungen in Groß-
berlin. Den Klagen über ungenügende Rohrpostverbindungen zwischen Berlin und den Vororten will die Reichspostverwaltung jetzt Rechnung tragen. Nachdem vor einigen Monaten Steglitz an das Rohrpostnetz Berlins Anschluß erhalten hat, sollen jetzt auch Grunewald, Lichtenberg und Weißensee angeschlossen werden. Pankow wird voraussichtlich im nächsten Jahre Rohrpostverkehr mit Berlin erhalten.

Nr. 74 – Sonnabend
28. März 1914
Das Besteigen einer höheren Wagenklasse bei Platzmangel auf der Stadtbahn betrifft eine Verfügung der Eisenbahndirektion, die sich gegen den vielverbreiteten Irrtum richtet, man dürfe bei Platzmangel auf eine Fahrkarte dritter Klasse in zweiter Klasse fahren. Man hört in solchen Fällen oft die Entschuldigung, ein Stationsbeamter habe jene Fahrgäste wegen Platzmangels in die zweite Klasse verwiesen, wie dies im Fernverkehr ausnahmsweise zugelassen ist. Im Berliner Stadt= und Vorortverkehr ist dies völlig ausgeschlossen, denn hier ist es den Beamten direkt verboten, Reisenden bei Platzmangel die Fahrt in höherer Klasse mit Fahrkarten niedrigerer Klassen ohne vorherige Lösung der entsprechenden Zusatzkarten zu gestatten.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1913 übernommen.
Die Originale befinden sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Die Post im Untergrund

Die Berliner Rohrpost

Die erste Berliner Rohrpoststrecke zwischen dem Haupttelegrafenamt in der Französischen Straße und dem Börsengebäude in der Burgstraße wurde am 17. November 1865 eröffnet. Etwa 60 Zentimeter unter der Straßenoberfläche verliefen die Rohrleitungen, durch die mittels Luftdrucks Briefe, Telegramme, Postkarten oder kleine Pakete von einer Sendestation zu einer Empfangsstation befördert wurden.
1881 wurden Charlottenburg, Schöneberg und Kreuzberg angeschlossen, Neukölln folgte 1908. Bis 1935 war das Netz auf 400 Kilometer angewachsen und verband Postämter, Ministerien, Zeitungsredaktionen, Banken und wichtige Büros.

EmpfangsstationRohrpost Empfangsstation.
Foto: Berliner Unterwelten

Die Rohrpostbüchsen wurden meist zu Zügen zusammengestellt und verkehrten nach einem genau festgelegten Fahrplan. Ein Rohrpostbrief kostete 30 Reichspfennige, ein normaler Brief nur fünf. Trotz der höheren Tarife erfreute sich die Stadtrohrpost höchster Beliebtheit, denn sie war unschlagbar schnell und sie war,  im Gegensatz zu Telegrafie und Telefonie, abhörsicher. Ungehindert vom oberirdischen Verkehrschaos sausten die  Sendungen mit bis zu 30 Stundenkilometern ihrem Bestimmungsort entgegen. Ein Rohrpostbeamter verlud, leitete und entlud die »Bömbchen« und sorgte für das pünktliche Eintreffen der Sendungen.  Vom Postamt zum Empfänger übernahm dann der Eilbote. Innerhalb von nur einer Stunde konnten so Informationen sicher ihren Besitzer wechseln.
Zu Beginn der dreißiger Jahre wurde die Anlage komplett modernisiert. Dank elektrischer Weichensteuerung konnten die Büchsen jetzt ohne Zwischenstopp ihr Ziel selbständig ansteuern. Die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit wurde verdoppelt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Niedergang der Rohrpost. Die Entwicklung des Fernschreibers und die Ausbreitung des Telefons ließen den Betrieb immer unwirtschaftlicher  erscheinen.  Die Teilung der Stadt tat ein Übriges. 1961 ließen die DDR-Behörden alle Rohre in den Westteil kappen. 

mr

Frühlingsgefühle kommen bestimmt

Wider die Müdigkeit

frühjahrsmüdigkeitFrühling macht schlapp, gebt mir einen Brennesseltee!Foto: fh

Die Feldlerche macht sich auf dem Tempelhofer Feld auf Partnersuche und fliegt munter über die Wiesen, die den Duft des Frühlings ausstrahlen. Auch andere Tiere regen sich und lachen der Sonne entgegen, während wir Menschen, die Müdigkeit in den Knochen, mit schleppendem Gang über die Landebahn laufen. Wieso ist die Natur so fit und wir so extrem müde? Woher kommt dieser Anflug von Schläfrigkeit, sobald das Frühjahr erwacht, und warum müssen wir ausgerechnet jetzt noch eine Erkältung bekommen?
Die Ursache liegt im Klimawechsel. Der Körper muss sich erst langsam auf den Wechsel von Winter auf Sommer einstellen. Dafür weiten sich die Blutgefäße und der Blutdruck sinkt, was uns müde und schlapp macht. Aber auch der Melatoninspiegel spielt eine große Rolle. Nach den dunklen Wintermonaten ist die Konzentration des Schlafhormons noch sehr hoch und muss erst einmal den Körper wieder verlassen. Um den Organismus auf die langen Tage und die steigenden Temperaturen einzustimmen, braucht er Tageslicht, Bewegung und leichte Kost. Viel frisches Obst, Gemüse und täglich drei Tassen eines Kräutertees aus Brennnesselblättern, Löwenzahn, Giersch und Gänseblümchen können die Schlappheit bekämpfen. Am besten werden die Kräuter frisch gesammelt. Wer dazu keine Lust oder Zeit hat, kann sich die Zutaten im Kräuterladen besorgen und zu Hause selbst mixen.
30 g Brennnesselblätter
20 g Löwenzahn
20 g Giersch
10 g Gänseblümchen
Einen Teelöffel der Mischung mit 200 ml kochendem Wasser übergießen und 10 Minuten ziehen lassen. Dreimal täglich eine Tasse trinken.
Wer seiner Haut nach der langen Heizperiode etwas Gutes tun möchte, kann die gleiche Mischung auch als Gesichtswasser verwenden. Dafür wird genau wie bei der Herstellung des Tees vorgegangen, nur wird dieser logischerweise erst kaltgestellt. Danach das Gesicht mit dem Kräuteraufguss waschen. Morgens und abends angewandt sieht die Haut bald schon wieder frisch aus.

km

Petras Tagebuch

Berlinale japanisch

Es war ein netter Versuch, die Berlinale zu besuchen. Eigentlich ist es mir eine große Freude, jedes Jahr Filme der besonderen Qualität zu sehen.
Dieses Mal jedoch erlaubte die knappe Zeit keinen dieser von mir so geliebten Vergnügungsbesuche. Aber es gibt ja die Kiez und Kneipe, die immerhin verpflichtet. Also plante ich den Besuch von »Berlinale goes Kiez«.
In Ermangelung einer Akkreditierung musste ich den Weg des normalen Bürgers einschlagen und mich an der Schlange im Kino »Passage« an der Kasse anstellen. So gedacht, nicht um die Problematik der Umsetzung ahnend.
Die Schlange vor dieser Kinokasse war nun wirklich ziemlich lang. Es machte mir gar nichts aus, denn das war für mich nur die Garantie, dass auch ich noch einen dieser begehrten Plätze erheische.
Vor und hinter mir stand eine Gruppe von, ich vermute, Japanern. Da sie fast alle einen Mundschutz trugen, müssen es Japaner gewesen sein, die sich vor Berliner Infektionen schützen wollten. Selbstverständlich beharrte ich nicht auf meinen Platz in der Schlange und war bemüht, Abstand zu der Gruppe zu halten, um sie nicht in Angst und Schrecken vor meinen Bakterien zu versetzen.
Es kam wie es kommen musste. Irgendwie muss ich mich vertan haben, denn immer, wenn ich den Abstand suchte, drängelte mich jemand weg, mit dem Ergebnis, dass ich immer weiter nach hinten geriet.
Nun gut, das ist dann manchmal so, dachte ich mir und übte mich weiterhin in Geduld. Langsam wurde mir vor vielen Menschen schwindelig. Es sollte einfach nicht mehr so lange dauern.
Endlich hatte ich mein Ziel erreicht. In der Hoffnung, dass sich die Warterei gelohnt hat, orderte ich Kinokarten für die beiden Berlinalefilme, die hier gespielt werden sollten. Es ist kein Wunder, dass die Karten ausverkauft waren, es war einfach kein guter Tag. Im nächsten Jahr muss ich das anders machen.

Wenn der Stammplatz mal besetzt ist

Corinna Rupp über Backshop-Phänomene

Eine wunderschöne weiße Winterlandschaft lachte mich an, als ich das Haus verließ, um in meinem Lieblings-Backshop einen Milchkaffee »to go« zu trinken. Die Straßen waren rutschig und es war kalt – sehr kalt.
Nach der Schlitterpartie, die mich zum Glück vor der richtigen Tür absetzte, freute ich mich schon auf den süßen Genuss der sahnigen Milch auf dem kräftig-bitteren Kaffeegeschmack. Der Backshop war zum Glück nicht so voll, ich musste also nicht lange warten. Viel sagen brauchte ich auch nicht, da mich die Besitzerin schon kannte. Auf die Frage: »Wie immer?« folgte ein kurzes Nicken.
Während ich auf meinen Milchkaffee wartete, flog die Tür auf. Eine ältere Dame betrat mit ihrem Einkaufsziehwägelchen den Laden und brachte die leichte Winterbrise in die bis dahin noch angenehm warmen Räume. Sie blickte kurz zu den Tischen am Fenster und murmelte: »Mein Platz ist ja gar nicht frei.«
Ich musste unweigerlich lächeln, denn sie hatte wie ein kleines Kind geklungen, dem gerade sein Lolli weggenommen worden war.
Gerade wollte sie sich zum Gehen wenden, als die Besitzerin ihr versicherte, dass der Platz bestimmt gleich frei sei. Auf die Frage, ob sie sich solange nicht auf einen anderen Platz setzen wolle, antwortete sie nur: »Nein, das ist ja nicht mein Platz.« Doch es half nichts, die alte Dame stürzte sich mit ihrem Wägelchen zurück ins Wintergeschehen. Und wie gesagt, es war sehr, sehr kalt und sehr rutschig. Ich wunderte mich schon ein bisschen über den Auftritt der Dame, aber dachte mir nichts weiter dabei.
Die Besitzerin des Backshops schmunzelte. »Sie kommt fast jeden Tag und will immer nur auf dem einen Platz sitzen.«
Tatsächlich war der Platz, auf den sich die Dame unbedingt setzen wollte, ein paar Minuten später frei. Aber die Dame war nun mal weg. Auch ich musste schmunzeln, irgendwie lag ein Hauch Ironie in der Luft.
Vor ein paar Tagen bin ich wieder am Backshop vorbeigelaufen und habe beiläufig durch das Fens­ter gesehen. Ein einziger Platz war besetzt – die alte Dame saß mit ihrem Einkaufsziehwägelchen an ihrem Stammplatz  und lächelte zufrieden. Fast wie ein kleines Kind sah sie aus, als sie genüsslich von ihrem Stück Apfelkuchen aß. Und irgendwie gehört sie da auch hin.
Wer weiß, vielleicht bin ich irgendwann die alte Dame, die unbedingt auf dem Platz am Fenster sitzen will.

Bürgerwunsch und Wahlrecht

Die Volksbefragung zur Bebauung des Tempelhofer Feldes hat deutlich gemacht, dass sich Bevölkerungsgruppen beim Wahlrecht ausgeschlossen fühlen.
Da haben Menschen, die in dieser Stadt leben und hier eine Heimat gefunden haben, eine Meinung, jedoch nicht den richtigen Status. Sie haben entweder nicht die richtige Staatsbürgerschaft oder nicht das entsprechende Alter. Selbst EU-Bürger, die an Kommunalwahlen  teilnehmen dürfen, sind bei der Volksbefragung ausgeschlossen. Das liegt daran, dass hier Landeswahlrecht gilt.
Bei aller Diskussion darum, was Landes- und Kommunalwahlrecht unterscheidet, interessieren sich die Menschen doch für ihre Umgebung und möchten sich an den Entwicklungen beteiligen.
Vielleicht ist es nicht im Sinne der Politik, dass diese Gruppen zu Wort kommen. In der Tat, bequemer wird das Regieren dadurch nicht.

Petra Roß