Ein Feature von Thomas Hinrichsen
»Sie fahren mit Blaulicht.« Gemeint ist die Polizei. Das sagen junge erwachsene Männer. Sie stehen vor einem Postcafé an der Schillerpromenade und sind besorgt, ob die Ordnungskräfte an anderer Stelle vielleicht repressiv werden.
Polizeibekannt sind sie, weil sie vielfach nach dem Ausweis gefragt werden. Dem hellhäutigen Autor dieses Features ist das in 22 Jahren Neukölln nicht einmal bei einer Verkehrskontrolle passiert. Die Szene ereignet sich eine Woche vor Silvester.
Dezember. Die Rosa Luxemburg Stiftung und die Fraktion der Neuköllner Linken veranstaltet im Kulturzentrum Spore eine Podiumsdiskussion zum Thema Polizeigewalt gegen Jugendliche. Die linke Bezirksstadträtin Sarah Nagel hebt in dem Rahmen hervor, dass Jugendliche in der Corona-Pandemie und auch jetzt in zu kleinen Wohnungen leben. Die Mieten sind zu hoch und die Wohnungen zu klein. Das sei gerade für Familien mit sogenanntem Migrationshintergrund ein großes Problem.
Am Tag vor Silvester. »Das war Gefängnis im Lockdown. Wir kamen nicht heraus.« So sagt es ein junger Erwachsener ganz energisch. Sein Plan ist es, eine Familie zu gründen, und das nicht auf der schiefen Bahn. Offen spricht er von seiner Gefängniserfahrung. Er fragt mich: »Kennst du Kafka?« »Ja. Du hast ihn an der Schule gelesen?« »Nein, im Knast.«
Bei der Podiumsdiskussion wird hervorgehoben, was Polizei auslösen kann, wenn sie herbeigerufen wird, um soziale Konflikte zu lösen, für die sie nicht verantwortlich ist. Sie kommt als Staat, als harter Vertreter der Demokratie. Wenn die Polizei zum Zugriff gerufen wird, an der Schule wie bei Demonstrationen, löst das nichts.
Am Abend vor Silvester. Die jugendlichen Rapper knallen auf der Schillerpromenade. Eine junge Frau, Mutter von zwei Kindern, kommt ins Postcafé, empört. »Das ist gefährlich. Ich habe Angst.« Betretenes Schweigen. Ich sage: »Die Frau hat recht. Entschuldigt euch bei ihr und geht auf den Mittelstreifen zum Knallen.« Das geschieht. Mir halten die jungen Männer die Tür auf, und nicht nur mir, wenn ich gehe. Sie haben Respekt vor alten Menschen. Vor allem dann, wenn wir Älteren sie ernst nehmen.
Ihre Musik ist Rap, und sie rappen von Liebe und Zukunft.
Endlich, nach langer nachbarschaftlicher Vorarbeit. Die Carl-Weise- Schule an der Schillerpromenade galt lange als Problemschule. Wachschutz statt Sozialarbeit wurde angefordert. Davon ist nichts übrig. Die meisten jungen Eltern im Schillerkiez schicken ihre Kinder hier in die Kitas und zur Schule. Rassiale Vorurteile spielen nur noch eine Randrolle. Die Polizei kommt gelegentlich zur Verkehrskontrolle und erteilt Strafmandate an Radfahrende, die den Gehsteig zur Rennbahn machen und vergessen, dass dort eine Schule ist.