Eine Betrachtung von Fred Haase
Neulich, gerade hatte ich die Idee einer spannenden Walkampf-Story für Greenpeace, rief mich die Redaktion von Kiez und Kneipe an. Sie fragten, ob ich bereit wäre, einen Artikel über die Leser/+*#innen ihrer Zeitung zu schreiben.
Als ich zögerte, wurde das Honorar genannt, nämlich diverse Freifahrten mit Auto-Scooter und Twister auf dem nächsten Britzer Baumblütenfest. Sofort sagte ich zu.
Damit mich die Leser/+*#innen bei den nun bevorstehenden intensiven Interviews akzeptierten, verwandelte ich mich in einen typischen Neuköllner, kaufte bunte Kleidung im Second-Hand-Laden sowie leicht verschmutzte Sneakers. Statt Kopftuch, von dem meine Frau energisch abriet, kaufte ich ein Base-Cap mit der Aufschrift »Make Neukölln Greater Than Cologne«.
Perfekt ausgerüstet stellte ich mich, trotz extrem guten Wetters, am nächsten Tag vor einen Buchladen, eine Bibliothek sowie 16 Kneipen, in denen diese Zeitung auslag, und befragte schamlos jede Person, die Kiez und Kneipe in ihren Händen hielt. Alle Versuche, die Zeitung an dem gut aussehenden Meinungsforscher vorbeizuschmuggeln, waren natürlich erfolglos. Ich forderte Menschen, die kein sichtbares Druckerzeugnis in Händen hielten, mit Ordnungsamtattitüde auf, zwei Blicke in Rucksäcke und Einkaufstaschen werfen zu dürfen. 66,37 Prozent akzeptierten mein Anliegen, 16 Prozent drohten mir, den Rest ignorierte ich mit Sätzen in Phantasiesprache.
Meine Befragung der Leserschaft ergab folgende Kategorien:
Der Meckeropa sucht gezielt nach schlechten Nachrichten, schimpft auf »Die da oben« und Hip Hop. Der HobbyDetektiv will alle mysteriösen Vorkommnisse im Kiez aufklären, entwickelt eigene Theorien und versuchte mich als Anhänger der »Flat Earth Society« (die Erde sei eine Scheibe) zu gewinnen. Dann das Sport-Ass, ihm geht es, trotz Übergewicht, nur um die Sportseite. Unsere Diskussion um den nicht gegebenen Handelfmeter beim EM-Spiel der deutschen Mannschaft gegen Spanien war emotional und heftig. Ich musste meinen weißen Judogürtel präsentieren, um die Situation zu befrieden. Die Kultur-Enthusiastin interessiert sich vor allem für die Veranstaltungshinweise und Kulturberichte und sang mir drei Songs aus den letzten Neuköllner-Oper-Produktionen vor, was mich sehr rührte.
Die Nostalgikerin blättert immer mit verträumten Lächeln durch die Seiten und sucht nach Geschichten von früher, erzählte mir dann strahlend in den nächsten 120 Minuten ihren Lebenslauf.
Alle weiteren Ergebnisse meiner Befragung übergab ich auf sechs mit großen Buchstaben dicht beschriebenen Seiten vertrauensvoll dem Münchhausen Institut in Bielefeld. Das Endergebnis machte die Redaktion von Kiez undKneipe zu Recht stolz. 97 Prozent der Leser sind Neuköllner/+*#innen, 76,5 Prozent sind gutaussehend, dazu noch gebildet, sportlich, zukunftsorientiert. Viele vermissen aber Sudoku und lustige Geschichten in ihrem Lieblingsblatt.
Das, finde ich, passt nicht zum Profil von Kiez und Kneipe. Deswegen habe ich der Redaktion diese Neuerungen energisch ausgeredet und mit einem Artikel über die Redaktionssitzungen gedroht.