Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Neuköllnische Zeitung, Montag, 4. 8. 1924
Paddelei auf Tod und Leben. Ein junger Mann (Bruno Fischer) wollte gestern früh mit einer jungen Dame nach in Treptow durchtanzter und durchzechter Nacht in einem Paddelboot nach Berlin fahren. Unter der Treptower Eisenbahnbrücke kippte aber das Boot um, und die Insassen trieben, des Schwimmens unkundig, im Wasser. Auf ihre gellenden Hilferufe eilte ein Patrouillenboot des Wasser= und Stromschutzes herbei, und beide konnten kurz vor dem Ertrinken ergriffen und gerettet werden.
Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 12. 8. 1924
Sprengt die Straßen beim Kehren. In letzter Zeit kann man sehr häufig sehen, wie von Leuten die Bürgersteige, insbesondere vor Geschäftsräumen, gefegt werden, ohne daß diese vorher genügend mit Wasser besprengt werden. Die Passanten müssen nun den aufgewirbelten Staub einatmen. Daß dieses nicht besonders zuträglich für die Gesundheit ist, scheinen diese Leute nicht zu bedenken. In dem trockenen Staub sind oftmals Bazillen, die dann durch die Atmungsorgane ihren Weg in die Lungen nehmen und zu bösen Erkrankungen führen. Im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege können wir nur jedem die dringende Mahnung zurufen: Sprenge die Straße, bevor du sie kehrst.
Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 14. 8. 1924
Die gefährlichen Drachen. Die Leitung des Flughafens auf dem Tempelhofer Felde beschwert sich darüber, daß die aufsteigenden und landenden Flugzeuge durch die Drachen behindert werden, die dort in großer Anzahl, hauptsächlich von Kindern, in die Luft gelassen werden. Es besteht die Gefahr, daß die Propeller sich in der Drachenschnur verwickeln und infolgedessen die Flugzeuge abstürzen. Die Polizeiorgane sind angewiesen worden, gegen diejenigen Personen, die auf dem Tempelhofer Felde Drachen steigen lassen, vorzugehen. Personen, die den polizeilichen Anordnungen nicht Folge leisten, werden bestraft werden.
Neuköllner Tageblatt, Mittwoch, 20. 8. 1924
Das unsichere Tempelhofer Feld. Nicht einmal auf dem Tempelhofer Felde ist man sicher, von Motorrädern nicht überfahren zu werden. Gestern und vorgestern gerieten Kinder und Erwachsene in Gefahr, von wildgewordenen Motorrädern ins Jenseits befördert zu werden.Seit wann können Motorräder das Tempelhofer Feld befahren? Nächstens machen auch Autos das Feld unsicher.
Neuköllnische Zeitung, Donnerstag, 21. 8. 1924
Die erste Bärin im Flugzeug. Im Berliner Zoo ist eine Bärin eingetroffen, die ihre Herreise von 1200 Kilometern im Flugzeug zurücklegte. Das Tier soll die Fahrt sehr gut überstanden haben. Es diente den anderen menschlichen Fahrgästen während der Reise zu einem willkommenen Zeitvertreib und soll auch einen riesenhaften Appetit geäußert haben.
Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 26. 8. 1924
Der Stralauer Fischzug war trotz des regnerischen Wetters am gestrigen Sonntag ein Erfolg. Zur Feier des Tages war Alt=Stralau festlich geschmückt. In den Gartenlokalen war schon frühzeitig reges Leben, und die Spree war belebt von Paddelbooten und anderen Fahrzeugen.Kurz nach 10 Uhr stach die erste Fischerflottille in See, begleitet von zahllosen Booten. Viermal zogen die Fischer aus, und viermal legten sie die Netze. Der Ertrag war zwar nicht allzu groß, aber die Freude über die Fänge war desto größer. Die Fische wurden bei »Vater« Lübbecke sofort freihändig verkauft.
Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1924 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.
Der Stralauer Fischzug
Wo die Berliner Orgien feierten
Der Stralauer Fischzug fand alljährlich ab dem 24. August, dem Bartholomäustag, statt. Die Tradition ging zurück auf ein im Jahr 1574 erlassenes Edikt des Kurfürsten Johann Georg, in dem ein Verbot des Fischens von Ostern bis Bartholomäus verfügt wurde. Mit dieser Maßnahme sollte die Überfischung der Spree verhindert werden.
Der Fischzug beging also feierlich das Anfischen nach der jährlichen Schonzeit. Es konnte wieder reichhaltiger gekocht werden, was mit Prozessionen und Fischessen gefeiert wurde. Aus der Feier zu Beginn der Fischereisaison entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte ein Volksfest – der Stralauer Fischzug war geboren.
Die eigentlichen Fischzüge fanden im Morgengrauen zwischen Oberbaum und Stralauer Kirche statt. Aus einer Urkunde von 1574 geht hervor, dass der Pfarrer von Stralau mit dem Ertrag von vier Fischzügen zu entlohnen sei. In späterer Zeit bekam wohl auch der Magistrat als Grundherr seinen Teil.
Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde der »Stralauer Fischzug« sehr populär und Stralau als Ausflugsziel bei den Berlinern immer beliebter. Zwischen 1780 und 1846 besuchten verschiedene Könige und Prinzen die Feier. Zu diesem Zeitpunkt beteiligten sich Zehntausende an dem Fest.
Die Begeisterung für den Fischzug hatte auch seine Schattenseiten. Im Laufe der Jahre wurde zunehmend von zügellosen Fress- und Sauforgien berichtet. Von 1839 an musste Militär herangezogen werden, um die öffentliche Ordnung während des Festes aufrechtzuerhalten. 1873 wurde es verboten. Nach 1880 wurde es wiederbelebt, jedoch als Fest der Gartenlokale. Sensationen waren Dampfpferde, Schiffs-Karusselle und »Sudanesen-Karawanen«, die unter »fürchterlichem Wutgeheul« Kampfspiele mit Schwertern aufführten. Die bürgerliche Presse wütete: »Dieser Rummel ist ein Ort des Lasters, Brutstätte der Gemeinheit, des Verbrechens«, dort gespielte Schlagermelodien wären »orientalisch« und »vom jüdischen Geist verseucht«.
Das alte Fest ging aus Konkurrenzgründen 1892 ein. Die Wiederbelebungsversuche von 1923 und 1937 sowie 1998 durch eine Bürgerinitiative blieben Eintagsfliegen.
mr