Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllner Tageblatt, Sonntag, 1.6.1924
Grabschändungen auf dem Garnisonfriedhof in der Hasenheide. Diebesgesindel, dem nicht einmal die Stätte der Toten heilig ist, hat in den letzten 14 Tagen auf dem Garnisonfriedhof in der Hasenheide arg gehaust. Von etwa 150 Gräbern haben die Diebe nach und nach die Lebensbäume gestohlen. Zweifellos kommt hier eine gewerbsmäßige Diebesbande in Frage, welche die gestohlenen Bäume bei gewissenlosen Gärtnern oder Blumenhändlern absetzen.

Neuköllnische Zeitung, Montag, 2.6.1924
Verliebt, aber trotzdem nicht wahnsinnig. Ein eigenartiger Vorfall spielte sich in einem Hause der Zehlendorfer Straße zu Dahlem ab. Die Tochter der dort wohnenden Frau Sch. wollte sich aus Verzweiflung, weil die Mutter den Verkehr mit ihrem Bräutigam nicht billigte, nachts das Leben nehmen. Die Mutter wollte sie daraufhin in einer Irrenanstalt unterbringen lassen und alarmierte deswegen die Polizei. Etliche der Beamten begleiteten das junge Mädchen zum Kreisarzt, der trotz später Nachtstunde noch zur Untersuchung schritt, aber völlige Geistesklarheit feststellte und das Mädchen sofort entließ.

Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 5.6.1924
Wasserfahrräder. Dem großen Publikum erscheinen diese Fahrzeuge besonders harmlos und sicher. Manche Dame, die nicht wagt, in ein Ruderboot zu steigen, besinnt sich nicht, eine Fahrt auf dem Wasserrad mitzumachen. Leider ist es mit der Sicherheit auf demselben nicht so ganz einwandfrei. Einer der Blechträger braucht nur eine undichte Stelle zu haben, so entweicht auf der Fahrt die Luft in demselben. Es dringt Wasser ein und das Fahrzeug kippt sicher um. So geschah es jetzt wieder bei Treptow am Paradies­garten. Das vollbesetzte Wasserfahrrad kenterte und die Insassen, Männer, Frauen und Kinder, lagen in den kühlen Fluten. Glücklicherweise konnten alle von den herbeigeeilten Booten aufgenommen und in Sicherheit gebracht werden. Kleidungsstücke, Uhren und andere Wertsachen aber sind verloren gegangen.

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 24.6.1924
Die Friseure für die Sonntagsruhe. Eine Versammlung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Friseurgewerbe fand in den Sophiensälen statt, in der man sich mit der Frage der Sonntagsruhe beschäftigte. Die Redner vertraten den Standpunkt, daß, wie es in fast allen anderen deutschen Großstädten der Fall sei, auch in Berlin die völlige Arbeitsruhe am Sonntag im Friseurgewerbe eingeführt werden müsse. In einer Entschließung wurden die Vorstände des Bundes deutscher Friseure, des Bundes deutscher Haarformer und des Arbeitnehmerverbandes des Friseur= und Haargewerbes aufgefordert, bei den zuständigen Stellen dafür einzutreten, daß die Ausnahmebestimmung von der Sonntagsruhe, gemäß § 105e der Gewerbeordnung beseitigt werden müßte.

Neuköllnische Zeitung, Mittwoch, 25.6.1924
Ueberfall auf eine Synagoge. Dienstag abend drangen in die in der Linienstraße 34 gelegene Synagoge etwa zwanzig junge Burschen und versuchten den Saal und den Hof zu demolieren und Betende zu verprügeln. Glücklicherweise gelang es der Schupo, weitere Tätlichkeiten zu verhüten und die Burschen festzunehmen.

Neuköllnische Zeitung, Freitag, 27.6.1924
Automobilunglück auf der Avus. Am Donnerstag abend kurz nach 7 Uhr, ereignete sich auf der Automobilversuchs= und Uebungsstraße ein schweres Autounglück. Ein mit zwei Herren und zwei Damen besetztes Auto erlitt während der Fahrt einen Reifendefekt. Der Wagenlenker, der Kapellmeister Erich Ziegler, steuerte den Wagen scharf zur Seite, so daß die Insassen durch den Ruck herausstürzten und der Wagen sich zweimal überschlug. Hierbei trug die Vortragskünstlerin Fanny Ziener einen schweren Unterschenkelbruch davon. Die übrigen Insassen wurden nur leicht verletzt.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1924 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Mit Vollgas durch den Grunewald

Raketenautos und Rekorde auf der Avus

Sie war die erste reine Autostraße und galt zudem lange Zeit als schnellste Rennstrecke der Welt, auf der zahlreiche Rekorde aufgestellt wurden: die Berliner Avus. Die Rennen auf der Avus zählten zu den populärsten Sportveranstaltungen Berlins und zogen auf ihrem Höhepunkt über 300.000 Menschen an.

AVUS Nordkurve.     Foto: historisch

Gegründet wurde die »Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße« 1909 durch wohlhabende, private Automobilbesitzer unter Beteiligung der Autoindustrie, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie zu fördern.
Eröffnet wurde die Avus am 24. und 25. September 1921 standesgemäß mit einem Rennwochenende. Aufgrund der nahezu schnurgeraden Streckenführung bot sie sich für allerhand technische Experimente und Rekordversuche an. Mit Hilfe eines aus 24 Feststoffraketen bestehenden Antriebs brachte Opel seinen »RAK2« so auf damals sagenhafte 238 Stundenkilometer.
Nach den Eröffnungsrennen wurde die Avus am 1. Oktober 1921 für den allgemeinen Kraftfahrzeugverkehr freigegeben. Dies allerdings nicht kostenfrei. Die Karte für eine einmalige Fahrt kostete zehn Reichsmark und konnte an den beiden Torhäusern am nördlichen und südlichen Ende der Strecke gekauft werden.
1926 wurde mit dem »Großen Preis von Deutschland« die nächste Großveranstaltung ausgetragen. Im Gegensatz zur Eröffnung waren auch internationale Fahrer mit am Start.
Die Nationalsozialisten nutzten den Rennsport für ihre Propaganda. Es begann die Zeit der berühmten »Silberpfeile« von Mercedes-Benz. Immer leistungsfähigere Motoren sorgten für Geschwindigkeiten von rund 350 Stundenkilometern, schneller als in der heutigen Formel 1.
Nach dem 2. Weltkrieg fanden nur noch kleinere Rennen statt. Das hing auch damit zusammen, dass die Strecke als Transitstrecke von West-Berlin nach West-Deutschland immer mehr an Bedeutung gewann.
Das letzte Rennen – ein DTC-Tourenwagenrennen – fand 1998 statt. Seitdem ist die Avus ein Teilstück der Autobahn A115 und gilt als meist­befahrene Autobahn Deutschlands.

mr