Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 3.4.1924
Die mangelhafte Schulreinigung. Eine der ersten Aufgaben, die die Berliner städtischen Behörden zu lösen haben, nachdem infolge der wertbeständigen Währung auch die städtischen Finanzen einigermaßen festen Boden gewonnen haben, wird die Ausgestaltung der im letzten Jahre so überaus stark vernachlässigten Schulreinigung sein. Man kann geradezu von einer Verwahrlosung der Schulen sprechen. Die Kämpfe, die im vorigen Jahre in der Stadtverordnetenversammlung und den Bezirksversammlungen gegen die allzu weitgehende Einschränkung der Schulreinigung geführt wurden, sind wohl noch in frischer Erinnerung. Für den Rest des diesjährigen Haushalts hat der Magistrat noch keine Aufbesserung vorgenommen, sondern nur der Pauschbetrag von 30 M. je Klasse eingesetzt, während die Bezirke, um überhaupt auskommen zu können, wenigstens 50 M. gefordert hatten. Bleibt die Schulreinigung so mangelhaft wie jetzt, dann kann von irgend einer Schulgesundheitspflege oder gar von Maßnahmen gegen Krankheiten und Seuchen in den Schulen überhaupt nicht mehr gesprochen werden. Es wird daher Pflicht der Stadtverordneten sein, bei der bald nach Ostern beginnenden Haushaltsberatung in allererster Reihe ausreichende Mittel für die Schulreinigung in den Voranschlag einzustellen.

Neuköllnische Zeitung, Dienstag, 8.4.24
Das Selbstmörderhaus. In Pankow, im Hause Mendelstraße 35, hat eine Frau Kr. ihrem Leben in einem Anfall von Schwermut durch Erhängen ein Ende gemacht. Im gleichen Hause haben in der letzten Zeit mehrere Mieter Selbstmord verübt. So hat sich erst vor einigen Tagen ein junger Mann namens Rausch erschossen, einige Zeit vorher hat sich ein junges Mädchen aus dem Fenster gestürzt.

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 15.4.1924
Wenn der Hund aus dem Fenster fällt. Aus dem Hause Görlitzer Straße 46 stürzte aus der vierten Etage ein Hund aus dem Fenster und fiel auf die elfjährige Martha Hänicke, die vor dem Hause spielte. Durch den Fall erlitt sie so schwere innere Verletzungen, dass sie nach dem Be­thanien=Krankenhause gebracht werden mußte. An ihrem Aufkommen wird gezweifelt.

Neuköllnische Zeitung, Dienstag, 22.4.1924
Die Frage der Hochhäuser in der Leipziger Straße. Wie wir im Anschluß an unsere Mitteilungen über die beabsichtigte Errichtung von Geschäftshochhäusern in der Leipziger Straße erfahren, soll von den zuständigen Stellen der Stadtverwaltung und der Baupolizei die Frage, ob in den verhältnismäßig engen Hauptverkehrsstraßen Berlins, wie Leipziger und Friedrichstraße, Hochhäuser mit Rücksicht auf das gesamte Stadtbild zugelassen werden dürfen, zunächst grundsätzlich geprüft werden. Auch der große Sachverständigenbeirat, der in den Fragen der Verunstaltung des Berliner Stadtbildes gehört wird, soll von der grundsätzlichen Seite der Frage Stellung nehmen.

Neuköllner Tageblatt, Mittwoch, 23.4.1924
Eleonora Duse gestorben. In Pittsburg = Pennsylvania, während einer Gastspielreise, ist Eleonora Duse im Alter von 65 Jahren einer Grippe erlegen. Ihre beispiellose schauspielerische Laufbahn hatte ihr zwar reiche Früchte gebracht. Aber die Erlesenheit ihres Empfindens und die Unbedingtheit ihrer Lebensführung zehrten im Verein mit ihrem großzügigen charitativen Bestrebungen das Erworbene rasch auf. »Niemand wage nachzuspielen, wie sie Ibsens Hedda Gabler spielt«, schrieb Kerr 1904. Dies Wort dürfte mehr oder weniger für jede ihrer Rollen zutreffen. Natürlich zeugte ihre Kunst dennoch ein Heer von Kopistinnen, die mit seelenvollem Augenaufschlag und halbverhangenen Mienen zu spielen suchten, was sie war: die »grande amatrice«, als die d’Annnuzio sie erkannt hat, »umleuchtet vom Ewigkeitszug – eine Inkarnation der »absoluten Schönheit, die neben und über allem Schmerz in der Welt schwebt.«

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1924 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Eleonora Duse

Die eindrucksvollste und expressivste Theaterschauspielerin ihrer Zeit

Die Italienerin Eleonora Duse zählte neben der Französin Sarah Bernhardt und der Britin Mrs. Patrick Campbell zu den größten Theaterschauspielerinnen ihrer Zeit. Berühmte Schriftsteller wie Pirandello, D‘Annunzio und Alexandre Dumas der Jüngere schrieben Stücke für sie, der gefürchtete Kritiker Alfred Kerr war ihr geradezu verfallen.

Eleonora Duse (1858-1924), (Photo Getty Images)

Eleonora Duse wurde 1858 im lombardischen Vigevano in eine Schaustellertruppe hineingeboren, die mit einem kleinen Wandertheater durchs Land zog und auf Marktplätzen und in Gasthäusern auftrat. So kam die kleine Eleonora schon früh mit der bunten Welt des Theaters in Berührung und stand bereits mit vier Jahren auf der Bühne.
Mit 14 spielte sie die Julia in der Arena von Verona. Sie trat in wechselnden Compagnien auf, arbeitete sich im Rollenfach empor, gründete eine eigene Schauspielgruppe. Sie spielte die Paraderollen der Zeit, die Kameliendame und weitere Gassenhauer. Aber sie wollte neue, moderne Stücke spielen. Zu ihren Lieblingsrollen gehörten die Frauengestalten Ibsens.
Ihre Verwandlungskunst, die Natürlichkeit ihres Spiels sind Legende. Im Gegensatz zu ihrer französischen Kollegin Sarah Bernhardt bevorzugte Eleonora Duse sparsame Gesten, zurückhaltende Posen und verzichtete auf jegliches »Make-up«. In der Zeit großer Posen auf den Bühnen wurde »Die Duse« berühmt für ihre kleinen Gesten, die innere Vorgänge sichtbar machten. So revolutionierte sie, die nie eine Schauspielschule besucht hatte, den Darstellungsstil ihrer Zeit. Ihre Spezialität waren zwar leidende, jedoch starke Frauengestalten. Damit wurde sie als eine der größten Darstellerinnen in Bühnenstücken von Ibsen, Zola oder Dumas weltweit berühmt.
Am 1. April 1924 traf die gesundheitlich schwer angeschlagene Schauspielerin in Pittsburgh ein, wo sie an einer schweren Lungenentzündung erkrankte und nach einem Auftritt am 5. April einen Zusammenbruch erlitt. Am 21. April 1924 starb die Schauspielerin in ihrem Hotelzimmer in Pittsburgh im Alter von nur 65 Jahren. Ihre sterblichen Überreste wurden auf einem italienischen Kreuzer in ihr Heimatland überführt, die Beisetzung fand unter gro­ßer Anteilnahme auf dem Friedhof von Asolo statt.

mr