Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 3.1.1924
Britz. Wie Vandalen hausten am 29. Dezember, morgens 4 Uhr 4 Männer, die mit einem Lastkraftwagen vom Tempelhofer Weg nach dem Braunschweiger Ufer fuhren. Sie fällten dort 5 der schönsten Zierbäume, hieben die Kronen ab, ließen diese liegen und fuhren mit den Baumstämmen in der Richtung nach Tempelhof davon.
Neuköllner Tageblatt, Sonnabend, 4.1.1924
Ein nicht alltäglicher Diebstahl wurde Donnerstag abend in der Kaiser=Friedrichstraße vor der städtischen Eisbahn ausgeführt. Unter den zahlreichen Zuschauern, welche dem großen Sportfeste beiwohnten, befand sich auch der Kaufmann Albin Gutsch aus der Weserstraße 46. Derselbe führte seinen Hund an der Leine. Im Gedränge, das dort herrschte, hat ein Langfinger die Leine zerschnitten und den Hund gestohlen. Es handelt sich um eine große, weiß=braun gescheckte Terrier=Hündin.
Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 8.1.1924
Eine schießlustige Gattin. Als nachts gegen 1.15 Uhr der 51 Jahre alte Schneider Karl Uterhardt von einem Ausgange nach seiner Wohnung im Hause Müllerstraße 141 zurückkehrte gab die über das lange Ausbleiben erboste 49 Jahre alte Ehefrau drei Revolverschüsse auf ihn ab. Während zwei der Kugeln fehl gingen, war der dritte Schuß ein Treffer. Die Kugel prallte jedoch an einem Hosenknopf ab. Die Täterin wurde von der Polizei festgenommen.
Neuköllnische Zeitung, Freitag, 11.1.1924
Die erste deutsche Assessorin. Als erst deutsche Referendarin hat Fräulein Dr. Marie Munk die große juristische Staatsprüfung vor dem Landesprüfungsamt in Berlin mit voll befriedigendem Erfolge abgelegt und ist zur Assessorin ernannt worden.
Neuköllnische Zeitung, Montag, 21.1.1924
Die Fünfzehnjährige im Kokainrausch. Heute morgen fanden Passanten im Tiergarten ein fünfzehnjähriges Mädchen auf einer Bank bewußtlos liegen. Ein Arzt des Rettungsamts stellte fest, dass die Ohnmächtige nach dem Genuß einer zu starken Dosis Kokain an der Fundstelle nachts eingeschlafen war. Es gelang, das Mädchen wieder zum Bewußtsein zurückzubringen. Die Fünfzehnjährige verweigert jede Auskunft über ihre Personalien. Sie mußte, da sie gleich nach der Vernehmung wieder in Ohnmacht fiel, in die Charieté geschafft werden.
Neuköllnische Zeitung, Sonnabend, 26.1.1924
Ein städtischer Antrag gegen die – Nacktkultur. Der Stadtverordnete Justizrat Dr. Lüdicke und seine Freunde haben der Berliner Stadtverordnetenversammlung folgenden Antrag unterbreitet: »An den beiden Moabiter Sammelstellen für vom Religionsunterricht befreite Kinder hat ein junger Lehrer rhythmisch=gymnastische Uebungen mit völlig nackten Mädchen und Knaben vorgeführt. Die Stadtverordnetenversammlung ersucht den Magistrat, die Wiederholung derartiger Vorkommnisse an dieser oder anderen Schulen auf alle Fälle zu verhindern und die für diese »Entgleisung« verantwortlichen Personen zur Rechenschaft zu ziehen.« Es scheint, als ob hier ein Anhänger der an sich so empfehlenswerten rhythmischen Gymnastik in mißverständlicher Auffassung Nacktkultur in der Schule propagiert hat.
Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 24.1.1924
Lenin gestorben. Die Berliner Botschaft der Sowjetregierung teilt mit: Am 21. Januar, 6 Uhr 40 Min. abends, ist Lenin in Gorki bei Moskau verschieden. Der ärztliche Bericht lautet: »Am 21. Januar trat im Gesundheitszustand Lenins eine schwere Verschlimmerung ein. Um ½6 Uhr abends wurde die Atmung stockend, der Kranke verlor das Bewußtsein, es traten allgemeine Krämpfe ein und um 6,40 Min. verschied Lenin unter Erscheinungen der Lähmung des Atmungszentrums.«
Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1924 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.
Nackte Vorkämpfer des Proletariats
Freikörperkultur soll das Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse stärken
Die Frauen und Männer, die sich in den 20er-Jahren in großen Gruppen auszogen, taten das nicht einfach so. Sie verstanden sich als revolutionärer, körpergestählter Vortrupp des kämpferischen Proletariats aus dem Dunstkreis von Sozialdemokratie und Kommunismus. 100.000 Menschen waren Ende der 20er-Jahre in der FKK-Bewegung organisiert.
Kopf der linken Nackten, die sich im »Bund Freier Menschen« zusammenschlossen, war der 1896 geborene Lehrer Adolf Koch. Der Pädagoge hatte 1924 in Berlin eine »Körperkulturschule« gegründet. Koch war überzeugt davon, dass die Nacktgymnastik, kombiniert mit Bildung und Pädagogik, den vom Kapitalismus ausgebeuteten Menschen heilen und das proletarische Selbstbewusstsein stärken könne.
In ganz Deutschland baute Koch 13 spezielle Schulen auf, in denen nicht nur nackt geturnt wurde, sondern auch regelmäßige Ausspracheabende zu Fragen der Körperhygiene und Sexualität stattfanden. Das Angebot richtete sich an Kinder und Jugendliche, aber auch an die Eltern, die durch ihre einseitigen Tätigkeiten in den Fabriken geschädigt waren. Sie sollten mithilfe der Kochschen Nacktgymnastik ein neues Körpergefühl bekommen. Mit dem Schlachtruf »Zurück zur Natur« sagten die Verfechter der Nacktkultur der Zwangsmoral einer Gesellschaft den Kampf an, die in ihren Augen neurotisch und krank geworden war.
Den Anhängern ging es dabei um Unabhängigkeit. Ihr Ansatz lautete: »Durch Nacktgymnastik und Ernährung ließe sich der eigene Körper umgestalten. Der Mensch war nun selbst verantwortlich für seine Physis und Gesunderhaltung«.
Eine andere Richtung schlug die völkische Bewegung der Freikörperkultur ein. Im Vordergrund stand auch hier, den Körper gesund zu halten – allerdings den explizit volksdeutschen Körper. Nur durch Sport, gute Ernährung sowie die Stählung des nackten Leibs in Wind und Wetter könnte dieser gestärkt und auf mögliche Kriege vorbereitet werden.
mr