Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Neuköllner Tageblatt, Sonnabend, 1.9.1923
Zeitungstod. Bei der Zeitungsstelle des Reichspostamtes haben bis 20. August 113 deutsche Zeitschriften und Zeitungen angezeigt, dass sie ab 1. September nicht mehr erscheinen. Die Zahl dürfte sich bis Ende dieses Monats noch wesentlich erhöht haben.
Neuköllner Tageblatt, Mittwoch, 5.9.1923
Ein gefährlicher Fahrradmarder. Ein Schwindler, der es auf Arbeitslose abgesehen hat, treibt seit einiger Zeit sein Unwesen. Er macht sich auf dem Arbeitsnachweis an Leute heran, die ein Fahrrad besitzen, spiegelt ihnen vor, daß er ihnen Beschäftigung verschaffen könne, besucht mit ihnen irgend ein großes Grundstück, läßt dort das Rad unterstellen und den Arbeiter auf dem Hof warten, tut so, als ob er den Arbeitgeber suche und holt in Wirklichkeit heimlich das Rad von der Verwahrungsstelle ab und verschwindet damit.
Neuköllnische Zeitung, Mittwoch, 5. 9. 1923
Nackttanzverbot. Der Polizeipräsident von Großberlin hat mit Wirkung vom 1. Oktober ab Nackttänze, andere Nacktdarstellungen, sowie Damenboxereien und Damenringkämpfe, sofern nicht bei ihnen ein künstlerisches, sportliches oder artistisches Interesse überwiegt, verboten.
Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 11.9.1923
Ein Pfund Knochen = 1 Million! Dem Minderbemittelten wird das Verhungern leichter gemacht als die Ernährung. Er konnte sich vor einem Vierteljahr immer noch mit einem zum Sonntagsschmaus eingekauften Pfund Knochen einigermaßen helfen. Mit Brühknochen ohne Fleisch ließen sich Suppen und Gemüsegerichte bereiten. Jetzt gibt es auch das kaum mehr. Der Pfundpreis für Knochen ist glücklich bei einer Million angekommen.
Neuköllnische Zeitung, Freitag, 14. 9. 1923
Eine Frau entführt eine Frau. Die durch zahlreiche Skandale bekannte Tänzerin Anita Berber lernte in Bad Reichenhall, wo sie mit ihrem sich von Droste nennenden Gatten, der eigentlich Wilhelm Knobloch heißt, zum Kuraufenthalt weilte, die junge, sehr hübsche und reiche Gattin eines bekannten Wiener Bankdirektors kennen und lockte sie nach Berlin, wo die beiden Frauen in einem Hotel zusammen lebten. Die Wienerin ist erst jetzt, auf Drängen des Anwalts ihres Gatten, nach Wien zurückgekehrt. Der Abstecher nach Berlin kostete sie ungezählte Millionen. Die Berber ist vor einigen Monaten aus Deutschösterreich ausgewiesen worden.
Neuköllnische Zeitung, Samstag, 15. 9. 1923
Der Walzer wird wieder modern. Aus Amerika kommt die Kunde, daß neben einer neuen und gemäßigten Form des alten Tangos im kommenden Winter der Walzer wieder modern sein wird. Jazz und ähnliche Tänze mit der entsprechenden Begleitmusik unter Zuhilfenahme von Kuhglocken, Trombonen und Zymbeln sollen in Zukunft aus den modernen Tanzsälen verbannt sein. – Dann werden unsere verlebten Lebejünglinge sich das Leben nehmen müssen!
Neuköllnische Zeitung, Samstag, 22. 9. 1923
An die Kleingärtner Neuköllns. Vom Bezirksamt Neukölln wird uns geschrieben: Die Nöte der Zeit lasten schwer auf weiten Bevölkerungsschichten. Auch bei den Kleingärtnern hat seit langem die Sorge um das tägliche Brot Einkehr gehalten. Und doch sichert die Scholle den Berufstätigen ein bescheidenes Dasein. An sie wendet sich unsere Bitte: blickt unter Euch und helft das Elend unter den Notleidenden lindern! Sammelt und spendet nach Kräften Geld und Naturalien (Kartoffeln, Gemüse, Obst) für die Kleingärtnerhilfe. Alte Leute und kinderreiche Familien, die keine oder nur geringe Einnahmen haben, werden in erster Linie berücksichtigt.
Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1923 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.
Tänzerin der Ekstase
Anita Berber, die wildeste Frau der Zwanzigerjahre
Die Schauspielerin und Tänzerin Anita Berber ist der Inbegriff der wilden 20er Jahre, welche sie bis zum Exzess auslebte. Mal mit Monokel und Smoking, mal mit Zobelpelz avancierte sie außerdem zur Stilikone. Sie war die erste Frau, die Herrenhosen trug, eine Mode, die bald »à la Berber« hieß und nicht nur von Marlene Dietrich übernommen wurde.
Anita Berber wurde 1899 in Leipzig geboren, Mutter Diseuse, Vater erster Geiger beim Gewandhausorchester. Mit fünfzehn siedelte sie mit Mutter und Großmutter nach Berlin um, nahm Schauspiel- und Tanzunterricht und wurde schon in jungen Jahren eine gefeierte Solotänzerin, die in Varietés auftrat und Auslandstourneen machte.
Durch ihre Nackttänze avancierte sie zum verruchten Star des Berliner Nachtlebens und brach alle Tabus. Ihre Affären und Skandale waren Tagesgespräch. Auch die Filmindustrie entdeckte früh das Potenzial der außergewöhnlichen Tänzerin und machte sie zum Stummfilmstar.
Mit ihrem späteren zweiten Ehemann, Sebastian Droste, einem Tänzer, dessen Choreographien Titel trugen wie »Opiumrausch« gestaltete sie ein Tanzprogramm mit dem Titel »Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase«, das in Wien uraufgeführt wurde und einen großen Skandal auslöste. Staatliche Stellen zwangen beide, 1923 Österreich zu verlassen.
Anita Berber bezahlte ihren Ruhm teuer: Sie wurde alkohol- und drogenabhängig. Ihre Ehe scheiterte, Engagements blieben aus.
1924 heiratete sie den amerikanischen Tänzer Henri Châtin Hofmann mit dem sie auf Tourneen durch Deutschland und Europa ging, die immer wieder von Skandalen überschattet wurden. 1927 begab sie sich auf eine ausgedehnte Tournee durch den Nahen Osten. In Damaskus brach sie auf der Bühne zusammen. »Galoppierende Schwindsucht«, diagnostizierte ein Arzt. Partner Henri schaffte die Todkranke zurück nach Berlin, wo sie am 10. November 1928 im Alter von 29 Jahren im Bethanien-Krankenhaus starb.
Ihre letzte Ruhestätte fand sie in Neukölln auf dem Neuen Friedhof der St.-Thomas-Gemeinde Berlin, der inzwischen zum Park umgebaut wurde und seitdem ihren Namen trägt.
mr