Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Neuköllnische Zeitung, Samstag, 4. 8. 1923
Der Milchladen als Nachtlokal. Gestern Nacht wurde im Hause Frobenstraße 25 ein Nachtbetrieb in dem Milch= und Buttergeschäft von Langer ausgehoben. Neun Personen wurden festgestellt; leere Sektflaschen und Gläser beschlagnahmt worden. Der Unternehmer war der Artist Arthur Cohn aus der Zimmerstraße, der die Beamten mit 100 000 Mk. zu bestechen versuchte. Auch eine »Dame«, die dort Nackttänze aufgeführt haben soll, wurde sistiert.
Neuköllnische Zeitung, Dienstag, 13. 8. 1923
Schießereien am Hermannplatz. Am Hermannplatz kam es zu einer Schießerei zwischen drei Passanten, die sich über die Gründe der jetzigen Not unterhalten hatten und anscheinend den Meinungsgegner nicht anders zu überzeugen glaubten, als daß sie sich anschossen. Der eine, Herr Neumann aus der Lessingstraße, wurde schwer verletzt nach dem Rettungsamt Norden, die beiden anderen in schwerverletztem Zustande nach dem Krankenhaus Urban bzw. nach der Rettungstelle 34 gebracht. Der Hermannplatz wurde durch Beamte der Schutzpolizei geräumt.
Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 16. 8. 1923
Buckow. Mit dem Beginn der Roggenernte hat hier sogleich der Kampf gegen die seit einigen Jahren hier vorkommenden Hamster eingesetzt. Die Hamsterplage scheint in diesem Jahre allerdings nicht so groß zu sein wie im vorigen Jahre, wo auf unserer Feldmark etwa 1000 dieser Schädlinge ausgegraben wurden. Dieser Tage gelang es den hiesigen Hamsterjägern 3 alte und 10 junge Hamster auf einem Stoppelfeld auszugraben. Das Geschäft lohnt sich, denn für die Hamsterfelle werden gute Preise gezahlt.
Neuköllnische Zeitung, Montag, 20. 8. 1923
Deutsche Kolonialarbeit. Das Pariser Blatt »Intransigeant« beschäftigt sich in einem Artikel mit der Verwertung von Kamerun und Togo und führt dabei aus, daß sich Togo dank der deutschen Arbeit in einem Grade der Vervollkommnung befinde, der als Beispiel dienen könne. Ähnlich sei es mit Kamerun, wo die Deutschen Frankreich den Weg gezeigt hätten; wenn alle französischen Kolonien so wie Togo und Kamerun ausgerüstet seien und wenn sie vor allem ihr Eisenbahnnetz ausgebaut hätten, so wäre das nach dem Blatte ein großer Schritt auf dem Wege zu ihrer rentablen Erschließung. – In Versailles aber hat man uns bekanntlich die »Fähigkeit« zur Kolonialarbeit feierlichst abgesprochen!
Neuköllnische Zeitung, Donnerstag, 30. 8. 1923
Internationale Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents. Am 25. und 26. August fand im Zoologischen Garten Berlin die Gründung der »Internationalen Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents« statt. Die Gesellschaft macht es sich zur Aufgabe, dieses europäische Großwild, daß in seinen freilebenden Beständen 1918/19 durch Wilderer völlig vernichtet wurde, in planmäßiger Züchtung der noch in den europäischen Tiergärten und in Privatbesitz befindlichen 60 Tiere zu erhalten und den Bestand zu vergrößern. Die Mitglieder der Gesellschaft sind Angehörige fast aller europäischen Staaten und der Vereinigten Staaten. Zum Präsidenten der Gesellschaft wurde der Direktor des Frankfurter Zoologischen Gartens, Dr. Priemel, zum Vizepräsidenten der Direktor des Stockholmer Tiergartens Alarik Behm gewählt.
Neuköllnische Zeitung, Donnerstag, 30. 8. 1923
Verhungert. Heute nacht hat sich die 90 Jahre alte Witwe Charlotte Steuder aus der Buttmannstraße 15 erhängt. Als man sie in ihrem dürftigen Zimmer, aus dem die Greisin bereits alle Gegenstände verkauft hatte, vorfand, gab sie noch schwache Lebenszeichen von sich. Dem Arzt flüsterte sie noch zu: »Nicht! Ich muß sterben!« Gleich darauf verschied die alte Frau an den Folgen der Aufregung. Sie hat den Selbstmord aus Nahrungssorgen verübt. Seit Tagen hatte sie nichts mehr gegessen.
Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1923 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.
Naturschutz durch Nachzüchtung
Internationale Gesellschaft bewahrt Wisente vor dem Aussterben
Der ursprünglich in nahezu ganz Europa beheimatete Wisent war in West- und Mitteleuropa bereits im 15. Jahrhundert fast völlig verschwunden. Lediglich im Urwald von Białowieża überlebte die Unterart des Flachlandwisents als freilebendes Wildtier bis ins 20. Jahrhundert. Im Jahre 1914 umfasste der Bestand dort noch etwas mehr als 700 Tiere. Der erste Weltkrieg und die Wirren der Nachkriegsjahre führten jedoch innerhalb weniger Jahre zum vollständigen Zusammenbruch der Population.
Nach dem Ersten Weltkrieg sahen rund 50 Biologen, Tierärzte und engagierte Amateure die Möglichkeit, dem Aussterben des Wisents mit Hilfe von Zoos entgegenzuwirken. Auf Initiative des Direktors des Frankfurter Zoos Kurt Priemel gründeten sie im August 1923 in Berlin die »Internationale Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents«, deren Ziele die planmäßige Zucht und Wiederauswilderung des Wisents in Schutzgebieten war.
Eine von der Gesellschaft durchgeführte Bestandsaufnahme ergab, dass noch 54 reinrassige Wisente in zoologischen Gärten und privaten Gehegen lebten.
Die Gesellschaft führte das erste Zuchtbuch für Wildtiere überhaupt, in dem Daten zu jedem Wisent notiert wurden, um einen internationalen Austausch zuchtfähiger Tiere zu ermöglichen und so der Inzucht entgegenzuwirken. Nach 1945 übernahm der Warschauer Zoo die Führung des Zuchtbuches.
Aktuell sind fast 3.500 Tiere gelistet, die in 33 Ländern gehalten werden. Mehr als 60 Prozent der Weltpopulation lebt in etwa 30 Herden und unter freien oder nahezu freien Bedingungen in Litauen, Polen, Russland, der Slowakei, Weißrussland und der Ukraine. Die übrigen Tiere werden in etwa 200 Gehegen gehalten.
In Deutschland wird mit etwa 450 Tieren in 75 Zuchtstationen die größte Gehegepopulation gehalten. Trotz der bisherigen Zuchterfolge wird die Art auf der internationalen Roten Liste des IUCN (Internationale Union zur Bewahrung der Natur) weiterhin als stark gefährdet eingestuft.
mr