Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Neuköllnische Zeitung – Dienstag, 1.11.1921
An den Unrechten gekommen. In einem Lokal in der Steglitzer Straße machte sich in der Nacht zu Sonntag der 35 Jahre alte Kellner Kurt Winkler an einen ihm völlig unbekannten Mann heran und forderte ihn auf, mit ihm gemeinschaftlich den Buchbinder Franz Berger zu überfallen und zu berauben. Der Fremde ging auch scheinbar auf den Vorschlag ein. Als nun Winkler über Berger herfallen wollte, bemerkte er zu seinem nicht geringen Schreck, daß sich nicht nur sein vermeintlicher Helfershelfer, sondern auch zwei plötzlich auftauchende Kriminalbeamte gegen ihn wandten und ihn festnahmen. Winkler war gründlich hereingefallen, denn er hatte zu seinem Komplizen – den Bruder des Berger erkoren.Neuköllnische Zeitung – Mittwoch, 9.11.1921
Gegen die Autoraserei. Das Polizeipräsidium teilt mit: »Allein in der letzten Woche sind sechs tödliche Autounfälle sowie eine Reihe von Unfällen, die schwere Verletzungen zur Folge hatten, amtlich gemeldet worden. Im Zusammenhang hiermit mehren sich die bei der Polizei eingehenden Strafanzeigen über Nichtinnehaltung der gesetzlichen Höchstgeschwindigkeit. Diese Beobachtung ist besonders in den Straße Unter den Linden, auf dem Kurfürstendamm, der Potsdamer Chaussee und der Neuen=Krug=Allee in Treptow gemacht worden. Es wird deshalb erneut darauf hingewiesen, daß die gesetzliche Höchstgeschwindigkeit für Berlin von 25 Kilometer in der Stunde nicht überschritten werden darf. Zuwiderhandlungen werden rücksichtslos mit Einziehung des Führerscheins bestraft.«
Neuköllner Tageblatt – Freitag, 11.11.1921
Neun Tage tot im Hotel gelegen. Ein Opfer des Streiks der Gastwirtsangestellten ist ein Herr von Scheidt geworden, der in einem Hotel in der Nähe des Potsdamer Platzes wohnte. Wie alle übrigen Hotelgäste bediente er sich während des Streiks selbst in seinem Zimmer. So kam es, daß sich niemand um ihn kümmerte. Als am Dienstag nach Beendigung des Streiks sein Zimmer aufgeräumt werden sollte, fand man ihn tot vor. Ein Arzt konnte nur feststellen, daß der Tod wahrscheinlich schon am 1. November eingetreten ist. Der Gast war am 27. Oktober zugezogen, scheint plötzlich erkrankt zu sein und ist dann hilflos gestorben. Die Leiche wurde zur Feststellung der Todesursache beschlagnahmt und nach dem Schauhause gebracht.
Neuköllnische Zeitung – Freitag, 18.11.1921
Ablösung der Freiheitsstrafen durch Geld? Wer im neuen Deutschland Geld hat, kann in Zukunft kleine Vergehen durch Zahlung ablösen, wer kein Geld hat, darf die Strafe durch freie Arbeit tilgen, d.h. durch die freie, unbezahlte Arbeit an den Staat. Diesen neuen Grundsatz stellt ein dem Reichstage zugegangener Entwurf auf. Nach ihm werden zum Heile des notleidenden Staates die Geldstrafen einmal verzehnfacht und kleinere Freiheitsstrafen durch hohe Geldstrafen (bis 100 000 M.) abgelöst. Ein Monat Gefängnis kann gegebenenfalls mit 50 000 M. abgelöst werden, der Staat erhält somit Geld und braucht den Missetäter nicht unterzubringen und verpflegen, die herrschende Zellennot in den Gefängnissen wird radikal beseitigt. Für die Soldaten gilt das Gesetz nicht, sie brummen weiter. Eine Ertragsberechnung der neuen Maßnahmen, aus der der finanzielle Erfolg des neuen Rechts für Reich und Länder zu ersehen wäre, ist dem Entwurfe nicht beigefügt.
Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1921 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.
Die Domestizierung des Straßenverkehrs
Mit Tempolimits zu mehr Sicherheit
Seit um das Jahr 1900 die ersten Automobile und Krafträder aufkamen und Verkehrsteilnehmer mit Geschwindigkeiten fertig werden mussten, die bis dahin niemand für möglich gehalten hatte, geht es um die Frage, wie schnell diese Fahrzeuge höchstens unterwegs sein dürfen. Ampeln, Fahrbahnmarkierungen oder Beschilderung gab es noch nicht. Das Risiko, bei Unfällen im Straßenverkehr zu sterben, war 1907 in Relation zum Kfz-Bestand 62-mal so hoch wie heute.
1909 erließ der deutsche Kaiser Wilhelm II. ein erstes Kraftfahrgesetz für das Deutsche Reich, das innerorts ein Tempolimit von ganzen 15 km/h vorschrieb. 1923 wurde das Tempolimit auf 30 km/h heraufgesetzt.
Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges führte zur Zunahme des Autoverkehrs. Mehr als 130.000 Personenkraftwagen und fast 100.000 Motorräder knatterten 1924 durch die Städte und Dörfer. Für Fußgänger, Radfahrer und die alltäglichen Pferdekutschen und Ochsenkarren wurde es zunehmend eng.
In mehreren Städten gründeten Kraftfahrer sogenannte »Autowachten« mit dem Ziel, der Raserei entgegenzuwirken. Sie überholten andere, zu schnell fahrende Wagen, zeigten das 35-km-Schild und notierten das Kennzeichen des Wagens. Im Wiederholungsfalle wurde der Verkehrssünder angezeigt.
Im November 1924 gründeten Kraftfahrer-Vereinigungen wie der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC) oder der Zentralverband für das Kraftdroschken-Gewerbe in Berlin die »Deutsche Verkehrswacht e.V.«.
Ab 1925 machten sich in Berlin die ersten Polizeistreifen auf die Jagd nach Verkehrssündern. Zwei Jahre später führte der ADAC seinen motorisierten Straßenhilfsdienst ein.
Schon früh erkannte man bei der Verkehrswacht die Zeichen der Zeit: So forderte ein Artikel in der damaligen Verbandszeitschrift »Verkehrswarte« bereits 1929 den Bau von Fahrradwegen. In die Tat umgesetzt wurde dieser Vorschlag jedoch noch nicht.
mr