Ein Nachruf von Anna Simon
Was? Jonathan ist nicht mehr da? »Der große Blonde mit dem losen Maul«, wie er sich selbst gern nannte, und den die meisten, die im Schillerkiez unterwegs sind, zumindest vom Sehen kannten, ist gestorben. An seinem letzten Tag vor dem Krankenhaus war er noch unterwegs bei einer Veranstaltung, die mit einigen Ständen auf der Herrfurthstraße dieselbe »zurückerobern« wollte. Er hatte sich gefragt, wer wohl da was »zurück« bekommen wolle. Und warum »erobern«? »Was sind denn das für Leute?«, fragte er, als er die Gesichter hinter den Ständen sah. Er kannte keines, obwohl er schon so lang hier lebte.
Dann ging alles sehr schnell. Wie vom Blitz getroffen hörte er auf dem Herrfurthplatz zwar noch, dass man zu ihm sprach, verstand aber die Worte nicht mehr. Notruf, Stroke-Einsatz-Mobil der Feuerwehr, erste beste Hilfe. Eine Woche kämpften die Ärzte um sein Leben. Dann ließen sie ihn gehen.Jonathan, der eigentlich Heinz-Jürgen hieß, der 2005 sein Gedächtnis verlor, durch die Presse ging, der sich mit beispielloser Kraft zurück- kämpfte in ein halbwegs lebenswertes Dasein, hat die Welt verlassen, ohne Gerechtigkeit, ohne auch nur ein einziges Zeichen oder nur einen Hauch des Bereuens seiner Peiniger erfahren zu haben.
Katholische Patres haben ihn vergewaltigt, gepeinigt und verkauft. Da war er Kind. Dieselben Patres haben in seinem Beisein einen Jungen erschlagen und ihn in einem Moor versenkt. Das war nur eine von mehreren Kinderleichen, über die Jonathan berichtete. All das haben wir aufgeschrieben in einem zweiten Buch, das sich kein Verlag zu drucken traute. Erhalten bleibt ein erstes Buch.
Wie sich Jonathan trotz seiner grauenhaften Vergangenheit zu einem so liebevollen, zugewandten und emphatischen Menschen entwickeln konnte, hat er selbst nie erklärt. Wie auch. So ist auch das Ausmaß Deines Fehlens nicht zu erklären, Jonathan.
Huno Kruse, »Der Mann, der sein Gedächtnis verlor«( Hoffmann&Campe, 2010)