Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Neuköllner Tageblatt
Sonnabend, 2.10.1920
Das Gesetz über die Bildung der Einheitsgemeinde Berlin ist mit dem gestrigen Tage in Kraft getreten. Allerdings sind die Abänderungsanträge, die die Landesversammlung beschäftigen, noch nicht erledigt, und so wird einstweilen in den Gemeindeverwaltungen noch alles beim alten bleiben. Auch die Neuorganisation der gesamten Berliner Polizei ist mit dem gestrigen Tage erfolgt. Das hiesige Polizei=Präsidium heißt von jetzt ab »Polizeiamt Neukölln«. Mit der Leitung desselben ist, dem Vernehmen nach, Regierungsrat Dr. Coester betraut worden. Zum Polizeibezirk Neukölln gehören nunmehr auch die Gemeinden Britz, Rudow ud Buckow. Diese Orte werden vermutlich mit Wachen belegt werden.
Neuköllnische Zeitung
Montag, 4.10.1920
Das Hochbauprogramm der Stadt Neukölln. Zu den von uns mitgeteilten Plänen der Stadt Neukölln, die Wohnungsnot durch öffentliche Bauten in mehrgeschossigen Häusern zu beheben, wird uns von sachverständiger Seite geschrieben: Das Wohnungsbauprogramm von Neukölln will mit einem Aufwand von 59 Millionen Mark ganze 641 neue Kleinwohnungen schaffen. Von Bedeutung ist der vernünftige Standpunkt, die Ausführung von drei=, zum Teil sogar viergeschossigem Hochbau, natürlich ohne Quergebäude und Seitenflügel zu planen, weil nur so, entgegen den Flachbautheorien des Volkswohlfahrtsministeriums, die billigsten Wohnungen geschaffen werden können. Daß eine vorwiegend sozialistische Stadtgemeinde wie Neukölln zu dieser Ueberzeugung gelangt ist, wird den Verfechtern des »allein seligmachenden« Flachbaues sehr peinlich sein. Obige Zahlen beweisen aber auch, daß man mit einer Mietssteuer die Wohnungsnot schwerlich mildern kann. Die Wohnungen der Stadt Berlin erbrachten vor dem Kriege etwa 300 Millionen Mark Jahresmiete. 30 Prozent Mietsteuer erbrächten also 100 Millionen, mit denen man nach dem Beispiel Neuköllns nur 1300 (!) neue Kleinwohnungen liefern könnte, die obendrein eine teure Miete verlangen und für kinderreiche Familien unzugänglich sind.
Neuköllnische Zeitung
Dienstag, 5.10.1920
Gartenarbeitsschule. Man schreibt uns: Das Interesse an unserer Gartenarbeitsschule wächst von Tag zu Tag, täglich finden dort Besichtigungen durch Pädagogen von nah und fern statt. Großer Besuch wird aus allen Teilen Deutschlands morgen, Mittwoch, nachmittag um 3 Uhr erwartet. Eltern, schickt eure Kinder zu dieser Zeit trotz der Ferien in die Gartenarbeitsschule, damit die Schulreformer aus dem Munde der Kinder erfahren können, wie gut es ihnen im Sommer da draußen gefallen hat. Ihr tragt damit zur Verbreitung dieser Schule bei.
Neuköllner Tageblatt
Sonnabend, 6.10.1920
Beim Kartoffelstoppeln erschossen worden ist die 31jährige Ehefrau Mathilde Hensel vom Köllnisches Ufer 54 in Neukölln auf der Feldmark von Günsdorf bei Dahlewitz, wohin sie sich gemeinsam mit der Ehefrau Weidehoff, ebenfalls Köllnisches Ufer 54 wohnhaft, begeben hatte. Die beiden Frauen sollen in Günsdorf ein Rencontre mit einem Feldhüter gehabt haben, wobei Frau Hensel erschossen und Frau Weidehoff angeschossen wurde; letztere wurde in das Krankenhaus in Buckow gebracht.
Neuköllner Tageblatt
Sonntag, 17.10.1920
August=Bebel=Straße. Im Neuköllner Rathaus geht man mit der Absicht um, die schönste Promenade, die Kaiser Friedrich Straße, (heute Sonnenallee, Anm. d. Red.) in August=Bebel=Straße umzutaufen. Weite Kreise unserer Bürgerschaft werden über derartige Maßnahmen Empörung empfinden. Die Anwohner, insbesondere die Gewerbetreibenden, glauben, daß ihnen durch eine Umbenennung ihrer Straße wirtschaftliche Schäden entstehen.
Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1920 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek,
Breite Straße 30, 10178 Berlin.
Grünes Klassenzimmer
August Heyn gründet die erste Gartenarbeitsschule
Die Idee der Gartenarbeitsschule wurde aus der Not geboren. Während und nach dem ersten Weltkrieg waren in der Arbeiterstadt Neukölln Hunger und Elend allgegenwärtig. Viele Kinder litten an Tuberkulose oder Rachitis. Gleichzeitig gab es mit dem Ende des Krieges einen politischen Neuanfang, und dazu gehörte auch eine neue Schule.
»Die Gartenarbeitsschule […] ist ein erster Schritt von der alten zur neuen deutschen Schule«, schrieb der Reformpädagoge und SPD-Stadtverordnete August Heyn 1921. Auf sein Betreiben wurde am 1. April 1920 die erste Neuköllner Gartenarbeitsschule am Teltowkanal eröffnet.
Heyn griff damit auf seine Erfahrungen aus den ersten Kriegsjahren zurück, in denen er »Schulkolonien« gegründet hatte. Kinderreiche und arme Familien sollten in diesen Gemeinschaftsgärten die Möglichkeit bekommen, in kleinem Umfang eigene Lebensmittel im Garten zu erzeugen, um so die schlimmste Not zu lindern.
In der neuen Gartenarbeitsschule gab es neben dem praktischen und theoretischen Unterricht in Naturkunde auch Zeit für Turnen und Bewegung, dazu eine Schulstunde nach Wahl des Lehrers. So wurde im Grünen gesungen, gerechnet, sogar gebetet.
Das Modell machte schnell Schule, in Berlin und anderswo. Zahlreiche Pädagogen aus ganz Deutschland besuchten 1920 die neue Einrichtung. August Heyn warb in Vorträgen und Artikeln leidenschaftlich dafür, dass jede Schule einer Gartenarbeitsschule angeschlossen sein sollte.
Die Schule am Teltowkanal gibt es nicht mehr. Aber die August-Heyn-Gartenarbeitsschule, die 1958 an der Fritz-Reuter-Allee 121 auf Äckern des ehemaligen Rittergutes Britz eingerichtet wurde, arbeitet im Geiste des Gründers.
Angesichts der immer größer werdenden Bedeutung der Themen Umwelt, Natur, Ökologie, Ernährung, Klima, Boden und Globalisierung ist es Zeit für mehr »Gärten für die Kleinen der Stadt«, ganz gleich, ob im Kleingarten, im Schulgarten oder in einer Gartenarbeitsschule.mr