Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 28 – Sonntag, 2. Februar 1919
Die Haftung für die Revolutionsschäden. Unmittelbar nach den Spartakuswirren wurde die Frage aufgeworfen, wer für die durch die Schießereien entstandenen Schäden aufkommen müßte, die Regierung oder die Stadt Berlin. Der Magistrat hat jetzt zu dieser Frage Stellung genommen und eine Haftung für die Revolutionsschäden kategorisch abgelehnt.
Nr. 29 – Dienstag, 4. Februar 1919
Oeffentliche Meinung. Es wird zurzeit viel über die Erwerbslosenfürsorge und die dadurch hervorgerufene Arbeitsunlust geschrieben. Ich war 41 Monate lang ununterbrochen im Felde, d. h. an der Front. Am Tage meiner Rückkehr bewarb ich mich sogleich um Beschäftigung, überall vergeblich und genieße somit die Einrichtung der Erwerbslosenunterstützung noch heute. Jedoch damals schon und heute noch befinden sich bei der Post sowohl wie beim Magistrat (in sämtlichen Brotkommissionen und Fürsorgestellen) unzählige Frauen in Stellung. Den Monat mit 26 Tagen berechnet, beziehe ich für mich und meine Familie 312 Mark Unterstützung. Für diesen Betrag würde ich jederzeit bereit sein, irgend eine Stellung anzunehmen und glaube, den Posten irgendeiner der vorerwähnten Kommissionsdamen ausfüllen zu können. Dadurch wäre ich von der Straße und der Magistrat spart den Monatsgehalt für die freigewordene Dame, die, wenn sie selbst unterstützt werden müßte, doch nur 130 Mark bezöge. So, wie es mir geht, geht es hunderten Kameraden. Deshalb: Macht für die Verheirateten, die jahrelang draußen waren, Stellen frei! Der Magistrat spart erheblich dadurch. P.
Nr. 31 – Donnerstag, 6. Februar 1919
Oeffentliche Meinung. Auf das Eingesandt des Herrn P. Vom 4. 2. 19 möchten wir folgende Tatsachen anführen, die genannten Herrn wahrscheinlich interessieren dürften. Eine Bürogehilfin, die mindestens 2-3 Jahre in einer Brotkommission tätig ist, bezieht seit kurzer Zeit im günstigsten Fall ein Gehalt von 200 M. Einsender würde für 312 M. die Stellung annehmen, uneingearbeitet. Für die jetzt stellungslos gewordene Frau käme eine Unterstützung von 130 M. in Frage. Abgesehen davon, daß die Ersparnis des Magistrats nicht in der angegebenen Höhe existierte, mutet der Herr diesen Frauen, die während des Krieges ihre ganze Kraft daransetzen mußten und pflichtgetreu ihren Dienst versehen haben, zu, mit diesen 130 M. »Erwerbslosengeld« durchzukommen. Dem Einsender ist jedenfalls die Notlage der meisten Hilfsarbeiterinnen unbekannt. Sollte einem Manne, der über größere Kraft und mehr Unabhängigkeit verfügt, nicht noch eine andere Möglichkeit geboten sein, sich eine Existenz zu schaffen, als die Frau, die sich unter unsäglichen Schwierigkeiten eine solche erworben hat, aus ihrer Stellung zu verdrängen?
Drei Kommissionsdamen.
Nr. 36 – Mittwoch, 12. Februar 1919
Deutsche Nationalversammlung. Weimar, 10. Februar. Die provisorische Verfassung ist heute von der Nationalversammlung in zweiter und dritter Lesung angenommen und darauf vom Präsidenten Dr. David unterzeichnet worden. Gegen die Annahme der Verfassung stimmten die Unabhängigen und der partikularistische süddeutsche Zentrumsflügel unter Führung von Dr. Heim. – Scheidemann teilte darauf mit, daß die Regierung ihre Aemter zur Verfügung stelle, worauf Abg. Payer im Namen des Hauses der Regierung den Wunsch aussprach, ihre Aemter vorläufig weiter zu versehen; hiermit erklärte sich Scheidemann einverstanden; sobald der Reichspräsident gewählt ist, wird dann ein neues Kabinett gebildet werden.
Nr. 46 – Sonntag, 23. Februar 1919
Selbstmord verübte der 16jährige Arbeitsbursche Willi Sch. aus der Stuttgarter Straße im Schlafzimmer seines Vaters mit einem Armeerevolver. Sein Vater hatte ihn beschuldigt, daß er ihm 60 M. gestohlen habe und dies nahm er sich so zu Herzen, daß er beschloß, freiwillig sein Leben zu enden. In einem hinterlassenen Brief erklärte er, das Geld nicht genommen zu haben. Die Leiche wurde beschlagnahmt.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1919 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Frauen erobern das Parlament
Der erste Schritt auf dem langen Weg zur Gleichberechtigung
Die am 19. Januar 1919 gewählte Nationalversammlung trat am 6. Februar 1919 zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Aufgrund der revolutionären Situation in Berlin fiel die Wahl des Orts auf das entlegene Weimar. Das Parlament hatte die Aufgabe, die Verfassung und Gesetze auszuarbeiten, um einen demokratischen Staat zu konstituieren und den Rahmen für Aufschwung und gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen.
Zum ersten Mal saßen auch Frauen in einem deutschen Parlament. 37 der 423 Mandate hatten sie errungen, das waren knapp neun Prozent.
Am 19. Februar 1919 durfte die SPD-Vertreterin Marie Juchacz als erste Frau ans Rednerpult, um vor einem deutschen Parlament zu sprechen. Ihre Anrede »Meine Herren und Damen!« löste Heiterkeit aus. So vermerkt es das Sitzungsprotokoll. Aber Marie Juchacz ließ sich nicht beirren und stellte deutlich heraus: »Was die Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit. Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist«.
Der Zugang zu den Parlamenten war für Frauen erreicht. Im selben Jahr wurde auch die Gleichberechtigung in der Weimarer Reichsverfassung verankert, wo es hieß: »Männer und Frauen haben grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten«(Art. 109).
Gleichstellung bedeutete das aber nicht. So wurde die Frauenerwerbstätigkeit weiterhin als Gefährdung der »normalen Ordnung« wahrgenommen. Auf dem Arbeitsmarkt sollte die »natürliche Privilegierung« des männlichen Geschlechts wiederhergestellt werden.
Die Demobilmachungsverordnungen zwangen die Frauen daher, Platz zu machen für die Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren. Die eigentliche Aufgabe der Frau sollte auch in Zukunft die Familie sein. mr