Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 2 – Freitag, 3. Januar 1919
Die Silvesternacht verlief diesmal in Neukölln weit lärmender als sonst. Die ganze Nacht hindurch waren die Hauptstraßen von Menschen, namentlich aber von halbwüchsiger Jugend belebt, die durch Abbrennen von Kanonenschlägen und Feuerwerkskörpern aller Art Unfug verübten oder sich sonstwie bemerkbar machten. Vor dem Rathause spielte sogar mitten in der Nacht ein Leierkasten, nach dessen Klängen auf dem Straßendamm flott getanzt wurde. Auch die Lokale waren gut besucht. Hier waren es meist die Stammgäste der Gastwirte oder Vereine, die das neue Jahr als Friedensjahr fröhlich begrüßten, und bei Eintritt der Polizeistunde um 1 Uhr ruhig nach Hause gingen. In den Kirchen fanden abends Jahresschlußandachten statt, die sämtlich zahlreiche Teilnehmer aufzuweisen hatten.
Nr. 2 – Freitag, 3. Januar 1919
Erwerbslosenfürsorge auch für Ausländer. Das preußische Ministerium des Innern hat zu der Verordnung über die Erwerbslosenfürsorge eine neue Ausführungsanweisung ergehen lassen. Es wird darin betont: Aus den Ergänzungen zu der Verordnung ergibt sich, daß die Erwerbslosenfürsorge grundsätzlich nicht nur Inländern, sondern auch Ausländern, die im Gebiet des Deutschen Reichs wohnen oder sich aufhalten, im Bedarfsfalle zu gewähren ist. Für Kriegsgefangene gilt die nicht, da ihre Versorgung Sache der Heeresverwaltung ist.
Nr. 7 – Donnerstag, 9. Januar 1919
Während in Berlin seit Tagen die größten Unruhen herrschen, erfreuen wir uns in Neukölln glücklicherweise verhältnismäßiger Ruhe und Ordnung. Nur hin und wieder sieht man einen wohlgeordneten Trupp nach Berlin ziehen oder eine eifrig diskutierende Menschenmenge um einer Anschlagsäule oder Straßenecke versammelt. Meist sind es Mehrheitssozialisten und Unabhängige, die sich gegenseitig ihre Meinung sagen, wobei meist der Eine den Anderen zu seiner Ueberzeugung zu bekehren sucht. Besonders lebhaft sind diese Straßendebatten, wenn sich Frauen an denselben beteiligen, und man kann oft seine helle Freude haben, mit welcher Entschiedenheit die Frauen für ihre Ansichten kämpfen. Die Männer bekommen dabei manches bittere Wort zu hören.
Nr. 12 – Mittwoch, 15. Januar 1919
Doppelwählen ist strafbar. Amtlich wird mitgeteilt: Jeder Wähler darf nur an einem Ort und nur einmal wählen. Wer mehrere Male, um seiner Partei zu nützen, seine Stimme vergeben würde, macht sich strafbar. § 108 des Reichsstrafgesetzbuchs droht für das ungesetzliche Doppelwählen Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte an.
Nr. 13 – Donnerstag, 16. Januar 1919
Massenentlassungen. Die Deutschen Waffen= und Munitionsfabriken haben in ihren Arbeitsräumen einen Anschlag angebracht, in dem gesagt wird, daß sich alle ihre Arbeiter als entlassen betrachten können und sich bis zum 25. Januar ihre Papiere abholen sollen, andernfalls würden sie ihnen zugestellt werden.
Nr. 16 – Sonntag, 19. Januar 1919
Heute ist Wahltag! Wer nicht wählt, verrät das Vaterland. Wahlrecht bedeutet Wahlpflicht! Geht so früh wie möglich zur Wahl, da ihr sonst Gefahr lauft, wegen Andrangs nicht mehr wählen zu können. Der Wahlvorsteher ist verpflichtet, Punkt 8 Uhr abends die Abstimmung für geschlossen zu erklären. Alsdann dürfen Stimmzettel nicht mehr angenommen werden. Der Wähler, welcher bis dahin seine Stimmzettel noch nicht dem Wahlvorsteher übergeben hat, kann, selbst wenn er lange vor 8 Uhr abends im Wahllokal anwesend war, sein Stimmrecht nicht mehr ausüben. Zur schnelleren Abfertigung empfiehlt es sich, daß der Wähler dem Wahlvorsteher die Nummer der Wählerliste ansagt, unter welcher er in der Liste verzeichnet steht. Nehmt für alle Fälle einen Ausweis mit über eure Person, worauf auch die Wohnung verzeichnet ist, damit ihr bei der Wahl keine Schwierigkeiten habt. Gebt acht, daß euch keine gefälschten Wahlzettel in die Hand gespielt werden.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1919 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Geburt der Demokratie in Deutschland
Die Wahl zur Nationalversammlung – Die erste allgemeine, gleiche, freie und geheime Wahl
Die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 waren die ersten im umfassenden Sinne demokratischen, also allgemeinen, gleichen, freien und geheimen Wahlen der deutschen Geschichte. Denn erstmals durften auch mehr als 17 Millionen Frauen ihre Stimme abgeben. Sie machten davon im selben Maße Gebrauch wie die Männer – nämlich zu mehr als 82 Prozent.
Am Wahltag bildeten sich lange Schlangen vor den Wahllokalen. Manchmal mussten die Wähler mehrere Stunden warten, bis sie an die Reihe kamen.
Aus der Wahl ging die SPD mit 165 Mandatsträgern als stärkste Fraktion hervor. Zusammen mit dem Katholischen Zentrum mit 91 Abgeordneten und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die 75 Mandate errang, bildete sie die Weimarer Koalition. Die von Gustav Stresemann geführte rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP) erhielt 19 Sitze. Die als Sammelbecken rechtskonservativer, antisemitischer und völkischer Gruppierungen gegründete monarchistische Deutschnationale Volkspartei (DNVP) erhielt 44 Sitze, während die USPD auf 22 Abgeordnete kam. Die erst Ende Dezember 1918 gegründete KPD war nicht zur Wahl angetreten, da sie die parlamentarische Demokratie ablehnte.
Auch 300 Frauen hatten kandidiert, 37 wurden schließlich gewählt. Obwohl die Wählerinnen in ihrer Mehrzahl den konservativen Parteien ihre Stimme gaben, waren die meisten weiblichen Abgeordneten in der SPD und der USPD zu finden.
Das »rote Neukölln« wurde seinem Ruf gerecht. Drei Viertel der Stimmen entfielen hier auf die beiden verfeindeten Arbeiterparteien. Dabei lag die SPD mit 45 Prozent deutlich vor der USPD mit 32 Prozent. Auf die DDP entfielen 12 Prozent.
mr