Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 266 – Sonntag, 10. November 1918
Eine Extraausgabe des »Vorwärts« meldet: Generalstreik! Der Arbeiter= und Soldatenrat von Berlin hat den Generalstreik beschlossen. Alle Betriebe stehen still. Die notwendige Versorgung der Bevölkerung wird aufrecht erhalten. Ein großer Teil der Garnison hat sich in geschlossenen Truppenkörpern mit Maschinengewehren und Geschützen dem Arbeiter= und Soldatenrat zur Verfügung gestellt. Die Bewegung wird gemeinschaftlich geleitet von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Unabhängigen sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Arbeiter, Soldaten, sorgt für Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung. Es lebe die soziale Republik! Der Arbeiter= und Soldatenrat.

Nr. 266 – Sonntag, 10. November 1918
Von den bedeutsamen politischen Ereignissen, die sich gestern in der Reichshauptstadt zugetragen haben, war zunächst in Neukölln wenig zu merken. Nur einige große Arbeitertrupps durchzogen vormittags die Straßen, um sich nach Berlin zu begeben. Gegen Mittag blieben plötzlich alle Straßenbahnwagen auf der Straße stehen, da die Leitung stromlos geworden war. Bald wurde bekannt, daß in Berlin der Generalstreik proklamiert worden sei und daher die Arbeiter der Elektrizitätswerke den Strom für den Straßenbahnbetrieb abgeschnitten habe. Die Straßenbahnwagen blieben bis zum Abend auf den Straßen stehen, was der Jugend Gelegenheit zur Verübung allerhand Unfug bot. Im Rathause blieb der Magistrat versammelt, um evtl. zu besonderen Ereignisssen sofort Stellung nehmen zu können. Es wurde hierbei von sozialdemokratischer Seite die Versicherung abgegeben, daß die städtischen Werke und die Lebensmittelversorgung ungestört bleiben würden, was sich bisher auch bewahrheitet hat. In der ersten Nachmittagsstunde wurde die erfolgte Abdankung des Kaisers bekannt und nun füllten sich bald die Straßen mit zahlreichen Menschen, die das Ereignis besprachen. Von der Hasenheide kam ein Trupp Soldaten mit einer roten Fahne und diesem Trupp schlossen sich die Mengen an, die sich am Hermannplatz inzwischen angesammelt hatten. Zunächst begab sich der Zug, der immer größer wurde, nach der Kaserne in der Mahlower Straße, dann nach den Kasernen in der Kopfstraße, Erkstraße und am Hertzbergplatz, woselbst überall die in den Kasernen befindlichen Soldaten aufgefordert wurden, sich dem Zuge anzuschließen, was teilweise auch geschah. Soldaten und Offizieren, die man unterwegs begegnete, wurden die Kokarden und Achselstücke abgerissen, was sich später auf den Straßen häufig wiederholte. Bald kamen auch zahlreiche mit roten Fahnen geschmückte Militärautos von Berlin, welche Extraausgaben des »Vorwärts« mit der Meldung über die Vorgänge in Berlin auf die Straße warfen. In den Hauptstraßen der Stadt war der Verkehr gegen Abend ein außerordentlich reger, doch brauchten die zahlreichen Ordner der Arbeiterschaft nirgends einzuschreiten, da sich erfreulicherweise keinerlei Ruhestörungen oder sonstige Ausschreitungen ereigneten.

Nr. 272 – Sonntag,  17. November 1918
Preissturz in Zigarren. Die Ankündigung amerikanischer Zufuhren hat, wie in vielen anderen Artikeln, auch bei den Zigarrenhändlern zu Preisstürzen geführt. Zigarren, die gestern noch 1,20 Mark und mehr kosteten, sind heute mit 60 Pfg. ausgeschrieben, und die Schaufenster sind seit langer Zeit wieder gut gefüllt. Wir empfehlen aber den Zigarrenrauchern noch einige Zurückhaltung, vielleicht sinken die Preise noch weiter.

Nr. 272 – Sonntag,  17. November 1918
Tanzfreiheit! Zu den Verordnungen, die mit der Proklamierung der persönlichen Freiheit durch die neue Regierung wegfallen, gehört auch das Verbot der Tanzbelustigungen. Wie die »B.Z.« von zuständiger Stelle erfährt, wird eine ausdrückliche Aufhebung dieses Verbotes zwar nicht erfolgen, weil sie diesen Stellen völlig unnötig erscheint. Der Volkskommissar steht aber auf dem Standpunkt, daß diejenigen, die in diesen schweren Zeiten noch Sinn dafür haben, sich im Tanze zu drehen, nicht behindert werden sollen. Es wird also der Wiedereröffnung der Tanzbelustigungen, die vor dem Verbot bestanden haben, nichts im Wege stehen.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1918 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

»Es lebe die deutsche Republik!« Aber welche?

Die doppelte Proklamation – Räterepublik oder parlamentarische Demokratie?

Im Oktober 1918 begannen Vorgespräche zwischen den Kriegsparteien über einen Waffenstillstand. Als die deutsche Seekriegsleitung trotzdem am 24. Oktober das Auslaufen der Flotte zu einem letzten »ehrenvollen« Gefecht gegen die britische Royal Navy befahl, war das der Anlass zu Meutereien kriegsmüder Matrosen in Wilhelmshaven und Kiel. Daraus entwickelte sich innerhalb weniger Tage eine Revolution, die das ganze Reich erfasste.
Am 9. November spitzte sich die Lage dramatisch zu. In Berlin begann ein Generalstreik, zu dem die SPD mit aufgerufen hatte. Die Demonstranten zogen zu Hunderttausenden durch das Zentrum der Reichshauptstadt und forderten Frieden, die Abdankung des Kaisers und die Umwandlung des Deutschen Reiches in eine demokratische Republik.

Plakat der SPD gegen den Bürgerkrieg. Entwurf: Max Pechstein

Aus Furcht vor einem Bürgerkrieg entschlossen sich die Machthaber zu spontanem Handeln. Reichskanzler Prinz Max von Baden verkündete die Abdankung des Kaisers, seinen eigenen Rücktritt und die Übergabe der Geschäfte an den SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert. Einer demokratisch zu wählenden Nationalversammlung sollte die Entscheidung über die zukünftige Staatsform des Deutschen Reiches vorbehalten bleiben. Um 14 Uhr verkündete Sozialdemokrat Philip Scheidemann vom Balkon des Reichstags die Republik. Kurz danach rief Karl Liebknecht vom Berliner Stadtschloss aus die »Freie Sozialistische Republik Deutschland« aus, eine Räterepublik nach russischem Vorbild.
Am 11. November endete der Krieg mit dem Waffenstillstandsabkommen von Compiègne. Die Monarchie war gestürzt, Kaiser Wilhelm floh nach Holland ins Exil.
Die doppelte Ausrufung der Republik verdeutlichte die zunehmende Polarisierung der Revolutionsbewegung. Nach zum Teil bürgerkriegsartigen Unruhen setzten sich die SPD und die bürgerlich-demokratischen Parteien in den Folgemonaten mit ihren Vorstellungen durch. Das Deutsche Reich wurde zur parlamentarisch-demokratischen Republik mit einer liberalen Verfassung.

mr