Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 235 – Samstag, 5. Oktober 1918
Auszeichnung von Dienstboten. Beim Vaterländischen Frauenverein Neukölln besteht die Einrichtung, daß Dienstboten von Mitgliedern nach 5, 10 und 20jähriger Tätigkeit bei ein und derselben Herrschaft durch einen Ehrenbrief, ein Geldgeschenk und (bei mehr als 10jähriger Tätigkeit) durch die Verleihung einer Silberbrosche ausgezeichnet werden. Die Auszeichnung kann auch Dienstboten solcher Dienstherrschaften zuteil werden, die bisher noch nicht dem Vaterländischen Frauenverein angehört haben, sich aber zum Eintritt in den Verein und zu Leistungen in Höhe der entstehenden Aufwendungen verpflichten. Die Auszeichnung findet regelmäßig zum Geburtstage der Kaiserin statt und soll auch in diesem Jahre wieder zu diesem Tage ins Werk gesetzt werden.
Nr. 240 – Freitag, 11. Oktober 1918
Kampf zwischen Schutzmann und Verbrecher. Mittwoch abend wollte der Schutzmann Kogge in der Stendaler Straße den 34 Jahre alten Zimmermann Max Stahl, der aus dem Gefängnis entwichen war und sich ohne Wohnung umhertrieb, festnehmen. Als er sich ihm näherte, feuerte der Verbrecher sofort einen Schuß auf den Beamten ab, der aber fehlging. Ehe Stahl zum zweiten Male abdrücken konnte, hatte der Beamte von seiner Dienstpistole Gebrauch gemacht und traf den Verbrecher in den Unterschenkel. Darauf konnte seine Festnahme erfolgen.
Nr. 244 – Mittwoch, 16. Oktober 1918
Die Konservativen und das gleiche Wahlrecht. Die konservative Fraktion hat in einer am Montag abgehaltenen Sitzung einstimmig folgenden Beschluß gefaßt: »In der Stunde der höchsten Not des Vaterlandes und in der Erwägung, daß wir auf schwere Kämpfe für die Unversehrtheit des vaterländischen Bodens gerüstet sein müssen, hält es die konservative Fraktion des Abgeordnetenhauses für ihre patriotische Pflicht, alle inneren Kämpfe zurückzustellen. Sie ist gewillt, zu diesem Zwecke auch schwere Opfer zu bringen. Sie glaubt nach wie vor, daß eine weitgehende Radikalisierung der preußischen Verfassung nicht zum Heil des preußischen Volkes dienen wird, ist aber bereit, den Widerstand gegen die Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen entsprechend dem jüngsten Vorgehen ihrer Freunde im Herrenhause aufzugeben, um die Bildung einer Einheitsfront nach außen zu gewährleisten.« – Damit hat das gleiche Wahlrecht in Preußen endgültig gesiegt, und es ist seinen Freunden und der Regierung gelungen, es ohne Kampf durchzusetzen. Freilich in einer Stunde, die mit Recht als »die höchste Not des Vaterlandes« bezeichnet wird. Und die Frage bleibt offen, was und wieviel die Entfesselung des Kampfes um das gleiche Wahlrecht dazu beigetragen hat, daß das Vaterland in diese Bedrängnis geraten ist.
Nr. 246 – Freitag, 18. Oktober 1918
Straßendemonstrationen der Unabhängigen. Am Mittwoch nachmittag veranstalteten die unabhängigen Sozialdemokraten eine Kundgebung vor dem Reichstagsgebäude. Zunächst hatten sich ungefähr 700 Personen eingefunden, welche von der Polizei ohne Waffengewalt zerstreut wurden. Später gelang es einer größeren Zahl von Kundgebern, die sich noch durch den Zuzug Neugieriger verstärkte, durch das Brandenburger Tor in die Straße Unter den Linden einzudringen. Sie gelangte unter Johlen und Schreien bis zur Charlottenstraße, wo sie von der Schutzmannschaft mit der blanken Waffe zerstreut wurden. Es fanden im ganzen drei Festnahmen statt.
Nr. 251 – Donnerstag, 24. Oktober 1918
Große Opfer hat der Krieg schon von der alteingesessenen Familie Bading gefordert. Acht Glieder dieser Familie haben bereits den Heldentod für das Vaterland erlitten. Die gefallenen Helden waren zumeist mit dem Ehrenkreuz dekoriert. Der Stammvater der Familie, Joachim Friedrich Bading, kam 1768 nach Rixdorf als Müllergeselle und bewirtschaftete die alte Königliche Mühle bis zu seinem Tode 1803.
Nr. 256 – Mittwoch, 30. Oktober 1918
Ein unheimlicher Leichenfund wurde in dem Hause Waldemarstraße 41 gemacht. Dort wohnte für sich allein eine 67 Jahre alte Friseurin Frau Frieda Locke, deren Sohn im Felde steht. Die Frau litt schon seit längerer Zeit an Herzschwäche und Atemnot und kam seit acht Tagen nicht mehr zum Vorschein. Gestern öffnete man ihre Wohnung und fand sie tot im Bett liegen. Mehrere Katzen, die die Frau hielt, hatten vor Hunger die Leiche am Gesicht und an beiden Beinen stark angefressen, um nicht ganz zu verhungern. Die Frau ist ohne Zweifel vor acht Tagen an Herzschwäche gestorben. Die Leiche wurde beschlagnahmt und nach dem Schauhause gebracht.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1918 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Lohn für treue Dienste
Orden statt anständige Bezahlung
Neben Orden und Ehrenzeichen für militärische Verdienste gab es im Kaiserreich auch zahlreiche Dekorationen für Verdienste um Kunst und Wissenschaft, für zivile Leistungen aller Art oder für Treue in der Arbeit.
Eine nur sehr selten verliehene Kategorie von Auszeichnungen stellten Ehrenzeichen für langjährige Diensttreue weiblicher Dienstboten dar.
Die wenigsten Frauen blieben über viele Jahre bei einer Herrschaft. Nur durch häufigen Stellenwechsel konnten sie hoffen, auf der Karriereleiter der häuslichen Dienste vom Klein- und Alleinmädchen zum Hausmädchen oder gar zur Köchin aufzusteigen und auf Grund ihrer zunehmenden Erfahrung auch einen höheren Lohn zu erzielen. Häufiger aber waren die Stellenwechsel durch als unzumutbar empfundene Arbeits- und Lebensverhältnisse motiviert.
Hatte die Dienstherrschaft den Wunsch, dass ihrer Dienstbotin die Auszeichnung verliehen wurde, musste sie ein schriftliches Gesuch mit entsprechender Begründung, dem Lebenslauf der Auszuzeichnenden und oft auch mit einer Stellungnahme des Ortsgeistlichen an die zuständige Polizeibehörde oder an eine andere amtliche Stelle richten.
Unabdingbare Voraussetzung für die Befürwortung eines Verleihungsgesuchs durch die zuständige Behörde war, dass die Dienstbotin hinsichtlich ihres Lebenswandels völlig unbescholten war, sie musste der Dienstherrschaft gegenüber loyal gesinnt und fürsten- oder königstreu sein und sich auch im Dienst tadellos geführt haben. Sie musste sich also der höchsten Gnade würdig erwiesen haben. Erst auf Grund eines befürwortenden amtlichen Vorschlages entschied der Herrscher oder seine Gattin endgültig, ob der Dienstbotin die Auszeichnung zuteil wurde oder auch nicht.
mr