Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 206 – Sonntag, 1. September 1918
Das Ende des «Dutzend«. Die Reichsregierung beabsichtigt, in dem neuen Zolltarif, die Maßeinheit des »Dutzend« durch das «Zehnt« zu ersetzen, um der Unstimmigkeit, die die Zwölferrechnung in unserem Dekadensystem darstellt, den Garaus zu machen. Schon die gegnwärtig stattfindende Leipziger Messe soll mit dem Werke des Ersatzes des Dutzend durch das Zehnt praktisch beginnen und somit bahnbrechend und vorbildlich wirken. In absehbarer Zeit wird also das Dutzend jenen Gang gehen, den vorher schon Mandel und Schock, Elle und Zoll, Unze und Lot gegangen sind. Tatsächlich fügt sich die Zehnerrechnung unserem ganzen System besser ein.

Nr. 208 – Mittwoch, 4. September 1918
In hilflosem Zustande total ausgeraubt wurde der Kaufmann Deletz aus der Knesebeckstr. 106. Herr D. befand sich auf der vorderen Plattform eines nach Neukölln fahrenden Eisenbahnwagens der Linie 53, als er plötzlich in der Blücherstraße ohnmächtig wurde. Drei junge Leute nahmen sich seiner hilfsbereit an und brachten ihn nach seiner Wohnung. Als D. dort wieder zu sich kam, entdeckte er, daß ihm die hilfsbereiten »Samariter« nicht nur die Brieftasche mit Geld, Militär= und Geschäftspapiere, sondern sogar eine wertvolle Schlipsnadel und die Ringe vom Finger gestohlen hatten. In einer in heutiger Nummer unseres Blattes veröffentlichten Anzeige fordert D. die Diebe auf, ihm wenigstens die Brieftasche mit den für sie völlig wertlosen, für ihn aber sehr wichtigen Papieren zurückzusenden, während er auf alles andere verzichten will.

Nr. 209 – Donnerstag, 5. September 1918
Beschädigungen der Telegraphenleitungen durch Schulkinder. Die Schulabteilung der Regierung Potsdam wendet sich in einer Verfügung an die Schulleiter und Kreisschulinvestoren gegen die Beschädigungen der Isolatoren der Telegraphenleitungen. In letzter Zeit ist mehrfach wahrgenommen worden, daß die am Telegraphengestänge der Eisenbahnverwaltung befindlichen Isolatoren aus Porzellan mutwillig durch Steinwürfe zertrümmert worden sind. Als Täter kommen in den meisten Fällen Schulkinder in Frage, die sich beim Hüten von Vieh oder bei anderer Gelegenheit in der Nähe der Strecken aufhalten. Die Kinder sollen in allen in Betracht kommenden Schulen von Zeit zu Zeit – besonders in den Monaten April bis Oktober – über die Gemeingefährlichkeit und Strafbarkeit derartiger Streiche belehrt werden.

Nr. 213 – Dienstag, 10. September 1918
Der Anschluß des Hauptpostamtes in der Richardstraße, Ecke Anzengruberstraße, an das Straßenbahnnetz zum Zwecke der Paketbeförderung nach dem Hauptpostamte in der Spandauer Straße zu Berlin und nach den Berliner Bahnhöfen ist jetzt fertiggestellt. Gleichzeitig hat auf dem Hofe ein Umbau der Packkammern stattgefunden.

Nr. 217 – Sonnabend, 14. September 1918
Rockaufschlitzer in der Untergrundbahn. Auf den westlichen Strecken der Untergrundbahn treiben gegenwärtig in den überfüllten Wagen Rockaufschlitzer ihr Unwesen. Es ist besonders auf gutgekleidete Frauen abgesehen, denen meistens mit einem scharfen Instrument, wahrscheinlich einem spitzen Messer, Mäntel und Röcke aufgeschlitzt werden; zuweilen werden auch ganze Vierecke aus dem Stoff herausgeschnitten. Die Enge in der Untergrundbahn erleichtert den Rockaufschlitzern eine unbeobachtete Tätigkeit. Die Mithilfe des Publikums zur Unschädlichmachung der Täter ist dringend erforderlich.
Nr. 227 – Donnerstag, 26. September 1918
Man soll die kleinen Hamster laufen lassen. Das stellvertretende Generalkommando des 11. Armeekorps in Kassel hat eine nachahmenswerte Verordnung erlassen, in der es u. a. heißt: »Es muß vermieden werden, daß man die kleinen Diebe hängt und die großen laufen läßt. Es sollen nicht Leute angezeigt werden, die von Verwandten und Bekannten sich unbedeutende Mengen Eßwaren usw. holen, während Aufkäufer mit Körben von Eier und Butter ungehindert davon kommen. Da, wo es sich um gewerbsmäßigen Wucher handelt, greife man zu, aber die, die Zeit und Geld daran setzen, um etwas auf den Mittagstisch zu bekommen oder etwas zur Hebung des gesunkenen Gesundheitszustandes der Familien tun, die lasse man ungeschoren. Zum Spaß werden solche Fahrten sicher nicht unternommen.«

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1918 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Die Post fährt Straßenbahn

Der Krieg erfordert neue Logistikkonzepte

Straßenbahnen transportieren nicht nur Menschen. Sie können auch Güter befördern, zum Beispiel Postpakete.
Weil seit dem Beginn des Krieges die Oberste Heeresleitung die Pferdefuhrwerke der Reichspost, mit denen sie die Pakete zwischen den Postämtern transportierte, beschlagnahmte, musste die Post auf andere Transportsysteme ausweichen.

Poststrassenbahn.                                                                                                                                 Foto: historisch

Im Februar 1917 gingen die ersten Poststraßenbahnen in Betrieb. Bis Ende 1917 hatten neben den Berliner Postämtern auch die Postämter der umliegenden Gemeinden Charlottenburg,Wilmersdorf, Schöneberg, Steglitz und Neukölln einen direkten Gleisanschluss. Bis Mitte der 1920er Jahre waren insgesamt 24 Postämter in Groß Berlin an die Straßenbahn angeschlossen.
Die zunehmende Motorisierung bei der Reichspost führte dazu, dass der Straßenbahnbetrieb 1935 wieder eingestellt wurde.
Im Zweiten Weltkrieg wurden erneut Postsendungen, aber auch Massengüter mit der Straßenbahn transportiert. Noch zu DDR-Zeiten pendelten nachts Güterstraßenbahnen zwischen zwei Betriebsteilen des Transformatorenwerkes Oberspree in Niederschönhausen und Oberschöneweide. Erst 1990 war damit Schluss.
Inzwischen gibt es in der Berliner Verkehrsverwaltung Überlegungen, eine Güterstraßenbahn als Teil moderner Logistik wieder aufleben zu lassen, um die Straßen vom Lieferverkehr zu entlasten. Per Tram könnten all die Waren, die im Internet bestellt werden, umweltschonend in die Innenstadt transportiert, und von dort mit Elektro-Lastenfahrrädern zu den Empfängern gebracht werden.

mr