Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 180 – Freitag, 2. August 1918
Die bargeldlose Zahlung, eine Forderung der Stunde! Die Veredelung der Zahlungssitten steht an Bedeutung in nichts nach der Goldsammelbewegung oder der Kriegsanleihepropaganda; denn »der einzige Vorsprung, den England sich vor unserer Geldwirtschaft im Kriege bewahrt hat, liegt auf dem Gebiete des Umlaufs der papiernen Zahlungsmittel«. Diesen in München gesprochenen Worten ließ der Reichsbankpräsident unmittelbar darauf die Tat folgen; er rief am 2. Mai d.J. eine Organisation der Werbearbeit für den bargeldlosen Zahlungsverkehr über ganz Deutschland ins Leben, welche die Unterstützung sämtlicher Reichs und Staatsbehörden, sämtlicher Bundesregierungen und einer Reihe von maßgebenden Privatverbänden und Instituten gefunden hat. Die neue Organisation wendet sich jetzt an alle Kreise der Bevölkerung mit der Bitte, durch die Abkehr von veralteten Zahlungsgewohnheiten und den Uebergang zu edleren Zahlungssitten die Lücke schließen zu helfen, welche in der deutschen Rüstung noch klafft! Ein Plakat soll der Allgemeinheit das Wesen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs versinnbildlichen und jeden daran mahnen, sich ein Konto bei einem Geldinstitut oder dem Postscheckamt errichten zu lassen und dort alles nicht benötigte Bargeld einzuzahlen; er schafft sich dadurch selbst den größten Vorteil und stärkt obendrein die deutsche Geldwirtschaft.
Nr. 182 – Sonntag, 4. August 1918
Raucherfallen. In geradezu erschreckender Weise häufen sich jetzt die Termine wegen der Raucherstrafbefehle gegen Großberliner Einwohner bei den Potsdamer Gerichten. Ahnungslos verläßt der Großberliner Ausflügler im Sommer mit brennender Zigarre die Dampfer= und Eisenbahnstationen Nikolassee, Wannsee, Wildpark u. a. m. Sofort beim verlassen der Beförderungsstation stehen Gendarmen und schreiben die rauchenden Großberliner unbarmherzig auf. Strafbefehle, nicht unter 50 M., flattern nach einer Woche ins Haus, und Einsprüche verursachen durch die Ladung des Gendarmen und durch die Reise nach Potsdam noch mehr Kosten. Von den Gerichten kommt jetzt die Anregung, Raucherwarnungstafeln bei den in Frage kommenden Bahnhöfen und Dampferstationen aufzustellen. Auch ohne diese Anregung hätten die Behörden, welche so beflissen Gendarmen an die Stationen schicken, dafür sorgen können, daß die Großberliner Ausflügler durch Tafeln auf die Rauchverbote aufmerksam gemacht werden. Das ist eine Pflicht gesetzgeberischen Anstandes.
Nr. 203 – Donnerstag, 29. August 1918
Kindesberaubung. Das siebenjährige Töchterchen des Kassierers Schmidt, Glasowstr. 1, wurde Dienstag nachmittag zwischen 4 und 5 Uhr zu einem in der Nähe wohnhaften Bäcker geschickt, um Krankenzwieback zu holen. Drei Frauenzimmer, welche sich auf der Straße umhertrieben, hatten den Einkauf der Kleinen beobachtet, verfolgten das Kind bis auf den Hausflur Glasowstraße 1 und entrissen ihm dort mit Gewalt die Handtasche mit acht Paketen Zwieback, worauf sie nach der Juliusstraße zu flohen und leider auch entkamen. Hoffentlich gelingt es, die frechen Diebinnen zu ermitteln.
Nr. 203 – Donnerstag, 29. August 1918
Schreibunterricht und Gründlichkeit. Von verschiedenen Seiten war vor kurzem mitgeteilt worden, daß der Schreibunterricht in Preußen künftig auf der Grundlage eines neuen Leitfadens des Kunstmalers Ludwig Sütterlin erteilt werden solle. Halbamtlich wird hierzu geschrieben: »Richtig ist, daß seit längerer Zeit in einer Reihe von Schulen Versuche mit einer neuen Schreibweise eingeleitet worden sind. Diese Schreibweise ist aus der Zusammenarbeit Sütterlins mit anderen Fachleuten hervorgegangen und durch einen Ausschuß von Sachverständigen eingehend geprüft und gebilligt worden. Die Versuche müssen aber noch einige Jahre fortgesetzt werden, bevor über die Frage einer allgemeinen Einführung der neuen »Ausgangsschrift« entschieden werden kann.«
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1918 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Sütterlin erobert die Schulen
Die neue Schrift macht das Schreiben leichter
Im deutschen Sprachraum bestanden lange Zeit zwei Schreibschriften nebeneinander: Die lateinische Schreibschrift und die deutsche Kurrentschrift, die allgemein übliche Handschrift. Die starren Stahlfedern, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts die echten Federn verdrängten, eigneten sich jedoch nicht für die Wechsel zwischen feinen an- und breiten abschwellenden Bogenlinien, die für diese Schrift charakteristisch war.
1911 bekam der Grafiker Ludwig Sütterlin vom preußischen Kulturministerium den Auftrag, einen neuen Schrifttypus zu entwerfen, in dem es keine Schattierungen und keinen Wechsel in der Intensität der Linien gab, die einfach war, schlicht und modern.
Bereits ab 1914 starteten erste Versuche mit der neuen »Sütterlinschrift« an preußischen Grundschulen. 1924 wurde sie verbindlich in den Lehrplan aufgenommen.
Den Nazis galt die »Sütterlinschrift« zunächst als etwas Urdeutsches. Sie wurde zur »Deutschen Volksschrift«, die jedes Kind zu lernen hatte.
Bis zum 3. Januar 1941. Durch den »Normalschrifterlass« der auf eine Anweisung von Hitler höchstpersönlich zurückging, wurde zunächst nur die gedruckte Frakturschrift, dann auch die Verwendung der deutschen Schreibschriften untersagt. Seitdem durfte an den deutschen Schulen nur noch die »deutsche Normalschrift«, eine Form der lateinischen Schreibschrift, die auf Sütterlins lateinisches Alphabet zurückgeht, verwendet und gelehrt werden.
Der Grund für die Einführung dieser Schrift – so vermuten Historiker – war praktischer Natur: In den besetzten Gebieten war niemand in der Lage, die Anweisungen in Druckfraktur und Sütterlin zu lesen.
Ludwig Sütterlin hat sowohl den Aufstieg seiner Schrift als auch ihr Verbot nicht mehr erlebt. Er starb 1917.
mr