Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 54 – Sonnabend, 2. März 1918
Mit drakonischer Strenge wird jetzt gegen die »Hamster« vorgegangen. Der Oberingenieur Heinrich Koldt, Lichterfelde, wurde zu einer Woche Gefängnis und außerdem noch zu 100 M. Geldstrafe oder 200 Tagen Gefängnis verurteilt, weil er Butter, Milch und Fleisch ohne Marken bezogen hatte. Der Ingenieur Bruno Gast in Treptow erhielt wegen unbefugten Bezuges von Lebensmittelkarten 100 M. Geldstrafe oder 20 Tage Gefängnis. Wenn diese Verurteilungen ausgedehnt werden, gibt es binnen kurzer Zeit keinen unbestraften Menschen mehr.
Nr. 56 – Dienstag, 5. März 1918
Schutz der Friedhöfe gegen Bebauung. Durch einen wichtigen Nachtrag zur Baupolizeiordnung hat der Berliner Polizeipräsident nach Anhörung des Verbandsausschusses Großberlin und unter Zustimmung des Oberpräsidenten für eine Reihe von Stadtteilen Großberlins die offene Bauweise vorgeschrieben und die Friedhöfe der Vororte, ebenso wie dies bereits für Berlin selbst geschehen ist, vor der Gefahr einer späteren Bebauung geschützt.
Nr. 58 – Donnerstag, 7. März 1918
»Kompanie« – nicht mehr Kompagnie. Gemäß einer jüngst ergangenen Verfügung hat im schriftlichen Verkehr der militärischen Dienststellen das kleine »g« aus dem Worte Kompagnie in Wegfall zu kommen. Da es sich hierbei um eine durchaus angebrachte Verdeutschung dieses Wortes handelt, empfiehlt es sich, von der neuen Schreibweise allgemein Gebrauch zu machen.
Nr. 59 – Freitag, 8. März 1918
Vorsicht, Brotmarder! Ein neunjähriger Junge wurde gestern von seiner Mutter nach Brot geschickt. Als der Kleine mit zwei in eine Markttasche gepackten Broten das Haus betrat um nach der im Hinterhause befindlichen Wohnung zu eilen, sprach ihn ein im Flur stehender Mann an und bat den Jungen, einen im Vorderhause zwei Treppen wohnenden Mieter herunterzurufen, er würde solange die Brote halten. Bereitwillig kam der Junge dem Wunsche nach. Als er aber zurückkam, war der Fremde mit den Broten und einem ebenfalls in der Tasche befindlichen Portemonnaie mit Inhalt verschwunden. Mögen Eltern sich dieses Vorkommnis zur Warnung dienen lassen und ihren Kindern einschärfen, auf keinen Fall derartigen Ansuchen Folge zu leisten.
Nr. 60 – Sonnabend, 9. März 1918
Wie unsere Feldgrauen über den kürzlich stattgefundenen Streik denken, zeigt der uns zur Verfügung gestellte Brief eines Neuköllner Arbeiters. Der seit Kriegsbeginn im Felde stehende Neuköllner schreibt an einen hiesigen Bekannten: »Mit Erbitterung haben wir hier die Vorgänge in Berlin verfolgt. Die Streikenden sollten sich was schämen, daß sie uns in den Rücken fallen, während wir hier alle Tage Not und Entbehrungen ertragen, um das Vaterland zu retten. Sie glauben kaum, was hier für Worte über diese Sorte Menschen fallen; wenn wir sie hier hätten, würden wir sie alle vernichten, so groß ist der Haß. Aber es ist ja nur ein kleiner Teil, die uns den Sieg nicht gönnen, und wir werden dennoch siegen.«
Nr. 63 – Mittwoch, 13. März 1918
Die zunehmende Unsicherheit in Berlin hat die zuständigen Behörden endlich veranlaßt, entschiedene Maßnahmen zum Schutze der Bürgerschaft zu treffen. Eine bedeutende Zahl von Sicherheitsbeamten, die bisher in den verschiedenen polizeilichen Büros tätig waren, sind in den Straßendienst gestellt worden, so daß die Zahl der Nachtposten verstärkt werden kann. Die einzelnen Reviere werden zwei Nachtschichten für den Straßendienst einführen, so daß immer die Hälfte der Beamten zur Nachtzeit auf den Straßen Dienst tun wird. Dadurch wird die Zahl der Schutzleute, die nach Eintritt der Dunkelheit in den Straßen der Stadt auf Posten sind, um etwa 100 vermehrt werden. Ferner hat das Oberkommando in den Marken sich bereit erklärt, Militärpatrouillen für den Sicherheitsdienst zur Verfügung zu stellen, die zum Teil allein, zum Teil gemeinsam mit den Schutzleuten zur Nachtzeit auf den Straßen der Stadt zu treffen sein werden. Ein weiteres Mittel im Kampfe gegen das Gesindel, das nachts die Straßen der Stadt unsicher macht, soll darin bestehen, daß die recht mangelhafte Straßenbeleuchtung verstärkt wird.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1918 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Das Urtrauma der Deutschen
»Hamstern« wird zur Überlebensstrategie
Der »Kohlrübenwinter« 1916/17 war der Beginn einer Hungersnot, wie sie Deutschland seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr erlebt hatte. Trotz der staatlichen Rationierung aller Nahrungsmittel reichten die über Lebensmittelkarten zu beziehenden Mengen nicht zur Deckung des täglichen Kalorienbedarfs.
Wer konnte, versuchte direkt an die Erzeuger »guter« Nahrungsmittel heranzukommen und sie gegen Wertgegenstände zu tauschen, wurde also zum Hamster.
Doch nicht jeder hatte entsprechend wertvolle Tauschware zur Hand.Besonders in städtischen Arbeiterfamilien wurde der Hunger für lange Zeit zum Kriegsalltag. Erich Mühsam schrieb am 1. Mai 1916 in seinem Tagebuch: »Hamstern ist das neueste Schlagwort der Presse und des Publikums, und die Hamster dienen jetzt, wie vordem Juden und Wucherer, als Sündenböcke für den steigenden Nahrungsmittelmangel.«
Der Staat versuchte dem mit »Hamsterpatrouillen« entgegenzuwirken. Das »Berliner Tageblatt« berichtete am 5. März 1917 von Polizeirazzien in den Zügen, mit denen solche Ausgehungerten nach Berlin zurückkehrten: »Einzelne Gendarmen gingen sehr streng vor, führten die Personen, bei denen sie Lebensmittel fanden, ab oder beschlagnahmten diese zum Mindesten. Andere Beamte begnügten sich mit Verwarnungen oder stellten die Namen der Hamster fest.«
Doch auch harte Strafen hatten kaum noch abschreckende Wirkung. Der Hunger schuf seine eigenen Gesetze, gegen die alle Vorschriften und Sanktionen nichts mehr ausrichten konnten.
Das Hamstern wurde für Generationen von Deutschen eine Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehörten Hamsterfahrten erneut zur deutschen Normalität.
mr