Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 259 – Sonnabend, 3. November 1917
Einen Gemeinsinn höchst lobenswerter Art betätigt, wie uns aus Leserkreisen geschrieben wird, der bekannte Schlächtermeister Herr Hans Bopel, Berliner Straße 1 (Rollkrug), indem er jeden Freitag zwischen 2 und 3 Uhr warme Wurstsuppe unentgeltlich an Bedürftige abgibt. Man kann um diese Zeit zahlreiche Frauen und Kinder in den gastlich geöffneten Laden des Meisters strömen sehen, wo sie das ihnen in freundlicher Form zugeteilte Essen in Empfang nehmen und dann mit freudiger Miene nach Hause tragen. Zur Nachahmung an anderen Stellen empfohlen.

Nr. 263 – Donnerstag, 8. November 1917
Schiefertafel und Papiermangel. Man schreibt uns: Als man sich vor einigen Jahren entschloß, die Schiefertafel aus den untersten Klassen zu verbannen, war dafür die Erfahrung maßgebend, daß sie leicht zerbrechlich, schmutzig und geräuschvoll im Gebrauch war. Jetzt sollen diese Rücksichten in der Zeit der Papierknappheit fallen; gerade die untersten Klassen, in denen die Kinder infolge ihrer Ungeschicklichkeit viel Papier verbrauchen, müssen jetzt »papierlos« werden, zumal da auch im Kriege der Gebrauch der Schiefertafel für die Eltern billiger ist, als Tinte, Feder und Papier.

Nr. 264 – Freitag, 9. November 1917
Lehnin Führer des Aufstandes. London, 7. November. Reuter erhielt ein Telegramm von der amtlichen Petersburger Telegraphen=Agentur, die in Händen der Maximalisten ist, in dem es heißt, daß die Maximalisten die Stadt in ihrer Gewalt haben und die Minister verhaften. Der Leiter der Bewegung Lenin verlangte sofortigen Waffenstillstand und Frieden.
Straßenkämpfe in Petersburg. Kopenhagen 7. November. Einer Petersburger Drahtmeldung zufolge ist der Bürgerkrieg in der Hauptstadt nun ausgebrochen. In vielen Straßen werden Barrikaden errichtet und es kam bereits zu mehreren blutigen Zusammenstößen zwischen der Volksmenge und den Truppen. In den Arbeitervierteln herrscht heller Aufruhr, die maximalistische Bewegung macht reißende Fortschritte.

Nr. 268 – Mittwoch, 14. November 1917
Die Kriegsbeschädigten und die Große Berliner. Es wird darüber Klage geführt, daß die Kriegsbeschädigten vom Publikum, besonders auf der Straßenbahn, oft sehr rücksichtslos behandelt werden. Wie der »Vorw.« hört, hat sich das Oberkommando deshalb schon mit der Straßenbahndirektion in Verbindung gesetzt, diese aber hat es abgelehnt, hiergegen etwas zu unternehmen.

Nr. 273 – Dienstag, 20. November 1917
Stockholm, 18. November. Laut Dagens Nyheter erzählen aus Rußland eintreffende Schweden, daß in den letzten Tagen viel Blut geflossen sei; besonders die Kadetten seien zu Tausenden ermordet worden. Nach der Zeitung Nowoja Schisn hat die Vereinigung der Eisenbahner versucht, zwischen den kämpfenden Parteien zu vermitteln. Das Blatt bestätigt die frühere Nachricht, daß General Kaledin die Kohlendistrikte besetzt habe und dadurch einen Druck auf den gesamten Eisenbahnverkehr ausübe.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1917 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Roter Oktober

Umsturz mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Reichs

Nach der »Februarrevolution« und dem Untergang des Zarenreichs im März 1917 entflammte ein Machtkampf zwischen der neuen Provisorischen Regierung, die den Krieg mit Deutschland fortsetzen wollte und dem Petrograder Sowjet, auf den die kriegsmüden Soldaten ihre Hoffnungen setzten.
Der Führung des Deutschen Reiches kamen die innenpolitischen Schwierigkeiten in Russland, einem ihrer Hauptkriegsgegner, sehr gelegen. Um die Unruhen weiter zu schüren, beförderte sie Lenin, den Führer der radikalsozialistischen Bolschewiki, aus seinem Schweizer Exil in einem Eisenbahnwaggon quer durch Deutschland Richtung Russland. Am 16. April 1917 erreichte er Petrograd (heute Sankt Petersburg), wo ihn eine jubelnde Menschenmenge empfing. Einen Tag später verkündete er seine Aprilthesen, in denen er »Frieden um jeden Preis!« forderte und mit dem Schlachtruf »Alle Macht den Sowjets« zum offenen Kampf gegen die Provisorische Regierung aufrief.

Lenin.                                                                                                                Russisches Propagandaplakat 1920

Mit der »Oktoberrevolution« gelang es den Bolschewisten endgültig, die Macht im ganzen Land an sich zu reißen.
Richtiger für diesen Umsturz wäre allerdings der Begriff »Novemberrevolution«. Nach dem heute gültigen gregorianischen Kalender ergriffen die Bolschewiki am 7. November die Macht in Petrograd. Damals entsprach dies dem 25. Oktober, da in Russland noch bis 1918 der julianische Kalender galt.
Lew Dawidowitsch Trotzkij, Lenins wichtigster Mitstreiter, hatte im September 1917 den Vorsitz des Obersten Sowjets in Petrograd übernommen. Er stellte insgeheim bewaffnete Sturmtrupps aus Freiwilligen auf, die so genannten Roten Garden. In der Nacht vom 24. zum 25. Oktober besetzten diese strategisch wichtige Stellen in der russischen Hauptstadt. Revolutionäre Matrosen brachten den Panzerkreuzer »Aurora« in ihre Gewalt. Sie lenkten das Kriegsschiff die Newa hinauf und richteten die Kanonen auf den Winterpalast, der als Sitz der Provisorischen Regierung diente. Ein einziger Schuss genügte, um den Palast sturmreif zu machen und die Regierung gefangen nehmen zu können.
Noch am 25. Oktober 1917 trat in Petrograd der Allrussische Sowjetkongress zusammen, der den »Rat der Volkskommissare« als neue Regierung einsetzte. Dessen Vorsitz übernahm Lenin; Trotzki war für die auswärtigen Angelegenheiten, Josef Stalin für Nationalitätenfragen zuständig. Zudem wurde das »Dekret über den Frieden« erlassen, das sofortige Friedensverhandlungen mit Deutschland forderte und letztendlich den Friedensvertrag von Brest-Litowsk im folgenden Jahr ermöglichte. Dies festigte die Macht der bolschewistischen Partei, die sich nun KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) nannte.
mr