Ein Maler packt aus: Bildhörspiele chillen an den Wänden
Wenn das politische Berlin Rastalocken flicht, wenn in den Raucherkneipen der Hauptstadt der Grog aus Jamaika-Rum zum Aschenbecher gereicht wird, und wenn Normalsterbliche im mecklenburgischen Dorf Rechlin-Nord noch einen Platz suchen, überm Zaun zu hängen, dann hängt der Rechliner Maler Michael Ihrke unweit seiner Berliner Dependance im »Schiller’s« ab. Die Ernte des Jahres ist eingebracht.
Heute hängt er auf. Zurück aus seiner Gartenlaube an der Müritz – »Studio 3« steht dort am Modderweg auf einem efeuumrankten Keramikschild – hat er sich mit seinen Freunden Jürgen und Michael verabredet, das Licht für seine Vernissage am 18. November zu installieren. »Nee, Vernissage is mir zu fett«, nimmt er sich zurück, während wir den Flyer für die Ausstellung besprechen. »Nennen wir es ›Bilderlesung‹«, korrigiert er beim Absetzen seines Glases. »Oder ›das Bild im Wort‹!«, bemüht sich Jürgen um Originalität. Nach dem Grog sind sie sich einig: »Stillevens VANITAS – Bilder einer Ausstellung«. Das schlittert scheppernd wie Mussorgsky auf nederlands grachtenijs in um uns aufgerissene Ohren.
Stilleben googelt sich auf Umwegen so zusammen: »natura morte oder vanitas (lat)«. – Zurück ins Umgängliche: »Der leere Schein der toten Natur«, Novembers Wandschmuck für Gastwirt Waldis Kneipe, Schillerpromenade / Ecke Okerstraße.
»Einem lyrischen Text ähnlich«, erklärt Ihrke seine Stilleben, »wollen sie einen gedanklichen Inhalt vermitteln«. Vielleicht um das Unbegreifliche greifbar zu machen, haucht er den geölten Leinwändchen im iPad-Format (Für die Analogen: so um die DIN A4) mit sanfter Fahne Worte ein, dekantierte Texte mit kurzem Abgang, und performt in »Schiller’s« Billardzimmer am Abend seiner Bilderlesung unerhörte Bildhörspiele.
»Billardlesung!« setzt Jürgen, ins Weinglas glucksend, einen drauf. »Das trifft’s!«, konstatiert Ihrke und kommt auf die Idee, zur Vernissage, also zur Bilderlesung, das monströse Kugelmöbel mit dem feinen grünen Samt als Podest mit jenen Hausratsgegenständen aus Ihrkes Gartenlaube »Studio 3« zu drapieren, die er kraft viagralen Pinsels in die Höhen der bildnerischen Kleinkunst erhebt.
Intime Sachen sprudeln an die Oberfläche des Billardtisches, etwa die Handmühle, die er mit seiner Lebensabschnittsgefährtin für den »Kaffee danach« gemeinsam betreibt, Ihrkes in Zweisamkeit kuschelnde Knoblauchzehen, Eier, die über einer Bundesbrat-Pfanne an seidenen Fäden koalieren. Die Eier liegen nicht auf dem Billardtisch.
Als sich plötzlich – und für uns nach ausgiebig schöpferischem Trinken – Gastwirt Waldi zu Wort meldet, »Macht hinne, gleich is hier Jam Session mit ›Molodjosch‹!«, fragt Jürgen noch vorsichtig, ob nun die Löcher für das Licht in »Schiller’s« Wände gebohrt werden dürfen. »Macht doch, was ihr wollt, aber beeilt euch!« tönt Waldemar.
Ihrke macht das schon seit 77 Jahren.
Michael Garling