Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 233 – Donnerstag, 4. Oktober 1917
Giftmord an einem Säugling. Im Krankenhause Bethanien starb das vier Wochen alte Kind Ilse der Arbeiterin Minna Roskoden, das von der Mutter dorthin gebracht worden war, unter Vergiftungserscheinungen. Unter dem dringenden Verdacht, das Kind vergiftet zu haben, wurde der Geliebte der Roskoden und der Vater des unehelichen Kindes, der Arbeiter Franz Metag, festgenommen. Er soll am 30. September in der Wohnung der Roskoden gewesen sein und in die Milch Gift gemischt haben.

Nr. 239 – Donnerstag, 11. Oktober 1917
Gemeinsam in den Tod gehen wollten der 49jährige Photograph Kosmus Wünsch und dessen Geliebte, die 27jährige Franziska Jorisch. Um sich Mut zu ihrem Vorhaben zu machen, hatten sich die beiden Liebenden mit fünf Flaschen Wein versehen, wovon sie drei Flaschen und eine halbe geleert hatten, als sie sich schlafen legten und die Gaslampe abschraubten, um auf diese Weise aus dem Leben zu scheiden. Franziska J. hatte vor der Tat an ihre Mutter einen Abschiedsbrief geschrieben, worin sie diese zu ihrer Beerdigung bestellt. Gleich nachdem Frau J. den Brief empfangen, begab sie sich mit demselben zur Polizei und dieselbe rief die Feuerwehr hinzu. Als letztere am Mittwoch vormittag 91/2 Uhr in der W.schen Wohnung eintraf, fand sie das Liebespaar leblos vor. Bei der J. war der Tod bereits eingetreten, während W. noch Lebenszeichen von sich gab. Nach angestrengter Tätigkeit mit dem Sauerstoffapparat gelang es der Wehr, W. wieder ins Leben zurückzurufen; er wurde nach dem Krankenhause zu Buckow gebracht, während die Leiche der J. polizeilich beschlagnahmt worden ist. Der Grund zu der unglücklichen Tat soll darin zu suchen sein, daß W. zum Heeresdienst eingezogen werden sollte und beide sich nicht vonein­ander zu trennen vermochten, sondern lieber gemeinsam in den Tod gehen wollten.

Nr. 244 – Mittwoch, 17. Oktober 1917
Die Brandenburgische Provinzial=Hebammen=Lehranstalt und Frauenklinik in Neukölln, am Mariendorfer Weg 28=38, die bereits seit dem 2. Juli d. J. eröffnet ist, dient neben ihrem Hauptzwecke in erster Linie als Entbindungsanstalt und Frauenklinik. Sie steht unter der ärztlichen Leitung des Herrn Professors Dr. med. Hammerschlag, der sich als Spezialist auf dem Gebiete der Geburtsheilkunde eines ausgezeichneten Rufes erfreut. Für die Neuköllner Einwohnerschaft ist die neue Anstalt insofern besonders wertvoll, als die Wöchnerinnen nunmehr Gelegenheit haben, in der Nähe ihrer Wohnung die notwendige Pflege , fachkundige Hilfe und Beratung zu finden, so daß sie nicht mehr darauf angewiesen sind, die Berliner Charité oder andere entfernter liegende Anstalten aufzusuchen. Die Kosten der Kur und Verpflegung betragen in der dritten Klasse 4 M., in der zweiten Klasse 8 M. Und in der ersten 12 M. täglich. Für die Entbindung wird eine besondere Gebühr von 10 M. In der dritten, 20 M. In der zweiten und 30 M. in der ersten Klasse erhoben. Neuköllner Kriegerfrauen sind von der Zahlung dieses besonderen Entbindungskostenbeitrags befreit. Bei einem normalen Anstaltsaufenthalt von 12 Tagen sind sie also in der Lage, die Kurkosten ohne weiteres aus der ihnen zustehenden Kriegswochenhilfe zu decken. Auch unentgeltliche Entbindungen werden in der Anstalt vorgenommen, wenn die Wöchnerinnen einige Wochen vorher in der Anstalt Hausarbeit leisten (sogenannte Hausschwangere). Diese Einrichtung wird hauptsächlich für Frauen in Frage kommen, die das erste Kind erwarten.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1917 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Helferinnen beim ersten Schrei

Die Hebammenlehranstalt in Neukölln – einst ein Leuchtturm moderner Medizin

Zwischen 1900 und 1918 starben 15 Prozent der Kinder eines Geburtsjahrgangs in Deutschland. Eine derart hohe Säuglingssterblichkeit hatte ihre Ursache zwar auch in den Grenzen des damaligen geburtsmedizinischen Wissens, vor allem aber in den sozialen Verhältnissen. Denn während in wohlhabenden Familien 3,5 Prozent der Babys starben, waren es in Arbeiterfamilien fast 19 Prozent. Das Sterberisiko unehelicher Kinder lag fast doppelt so hoch wie das »legitimer«.
Weil zudem seit den 1870er Jahren die Geburtenrate sank, grassierte in den Eliten des Kaiserreichs die Angst vor dem Aussterben des deutschen Volkes. Es war daher nicht nur das Mitgefühl mit leidenden Müttern, dass der Staat begann, mit modernen Kliniken nebst der Ausbildung von Fachpersonal einen Gesundheitssektor zu schaffen, sondern es sollte auch die »Volkskraft« gestärkt werden.
Aus Anlass des 25-jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. 1913 beschloss der Brandenburgische Provinziallandtag den Bau einer Hebammenlehranstalt und Frauenklinik am Mariendorfer Weg in Neukölln. Das Grundstück dafür stellte die Stadt Neukölln unentgeltlich zur Verfügung. Im Juli 1917 wurde das Krankenhaus mit 210 Betten für Mütter und 130 Säuglingsbetten eröffnet. Ein Novum war die groß angelegte Ausbildung von Hebammen nach einheitlichen Standards.

Hebammen im Wandel der Zeit. Relief an der alten Frauenklinik.                                                 Foto: mr

Zentraler Bestandteil der Ausbildungsklinik waren die sogenannten »Hausschwangeren«, mittellose Frauen, oft ledige Mütter, die kostenlos für ein paar Wochen aufgenommen wurden. Im Gegenzug mussten sie Haus-, Büro- und Gartenarbeiten verrichten. Außerdem hatten sie sich als lebendiges »Unterrichtsmaterial« den angehenden Ärzten und Hebammen zur Verfügung zu stellen.
Im Laufe der Zeit wurde die Neuköllner Klinik zur festen Institution und immer weiter ausgebaut. 1923 wurde ein Säuglings- und Mütterheim angegliedert.
Das Ende kam, als im Jahr 2001 die Stadt ihren eigenen Krankenhauskonzern Vivantes gründete, der 2005 die Neuköllner Klinik wegrationalisierte.
Nach jahrelangem Leerstand werden die Klinikgebäude seit 2016 zu Wohnungen umgebaut.

mr