Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 184 – Donnerstag, 9. August 1917
Fort mit den Ohrringen! Zur Stärkung seiner finanziellen und wirtschaftlichen Rüstung verlangt das Vaterland von uns das Gold in jeder Form. Erfreulicherweise wird jetzt den Goldankaufstellen auch Goldschmuck in stärkerem Maße zugeführt. Bei dieser Gelegenheit sei die schon oft gehörte Mahnung: »Fort mit den Ohrringen!« wiederholt, denn jetzt bietet sich Gelegenheit, diesen mehr als überflüssigen Schmuck, gegen den auch vom Kulturstandpunkt schwere Bedenken geltend gemacht werden, ehrenvoll auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern. Und hofentlich für immer. Denn dieser Schmuck, zu dessen Anbringung das Ohrläppchen durchbohrt werden muß, ist ein Ueberbleibsel aus grauer Vorzeit, er erinnert an Gewohnheiten wilder Völkerschaften, die bei der Verwendung von Schmucksachen sogar ihren Leib zu verunstalten lieben. Die Nasenringe, die klirrenden Fußringe und Fußketten, gegen die die Propheten des Alten Testaments eiferten, sind im zivilisierten Europa zwar verschwunden, aber der Ohrring ist noch geblieben. Allerdings gibt es bei uns viele deutsche Frauen, die diesen halbbarbarischen, weil das Ohr verunstaltenden »Schmuck« verschmähen, aber viele tragen ihn noch aus alter Gewohnheit. Jetzt ist es an der Zeit, hiermit vollständig aufzuräumen. Der Kultur ist damit ebenso gedient wie der Reichsbank. Wenn man bedenkt, daß das Deutsche Reich 35 Millionen weiblicher Wesen zählt, von denen manche auch doppelte und mehrfache wertvolle »Garnituren« besitzen, so könnte durch die Einschmelzung dieses Goldes eine recht erhebliche Summe dem Goldbestand der Reichsbank zugeführt werden. Also fort mit den Ohrringen zugunsten des deutschen Vaterlandes!
Nr. 191 – Freitag, 17. August 1917
Warnung vor Streiks. Halbamtlich wird bekanntgegeben: In letzter Zeit sind wiederum Handzettel in Kriegsbetrieben verteilt worden, in denen zum Streik aufgefordert wird. Von der vaterländischen Gesinnung der deutschen Arbeiter wird mit Bestimmtheit erwartet, daß sie dem landesverräterischen Ansinnen anonymer Hetzer mit der gebührenden Verachtung antworten und es ablehnen, die Arbeit niederzulegen, während in Ost und West unsere Truppen im schwersten Kampfe stehen.
Nr. 195 – Mittwoch, 22. August 1917
Zigarrenpolonäsen. Die neueste Erscheinung im Großberliner Straßenleben sind Zigarrenpolonäsen. Es ist also nun dahin gekommen, daß auch die Männer »anstehen« müssen. Vor einigen Geschäften einer großen Zigarrenfirma, die schon seit einiger Zeit an weibliche und jugendliche Personen Ware nicht abgibt und die Verkaufszeit auf wenige und ungelegene Stunden beschränkt hat, kann man jetzt die Männer Kette stehen sehen, um schubweise eingelassen zu werden. Das gewährt selbst in dieser an Neuerungen so reichen Zeit einen eigenartigen Anblick, und den wartenden Rauchern ist, das merkt man ihnen an, das Anstehen sehr unangenehm. Aber der Gedanke, den gewohnten »Glimmstengel« entbehren zu sollen, läßt sie auch diese Geduldsprobe ertragen.
Nr. 199 – Sonntag, 26. August 1917
Das Ende der »Garantie«. Der Zentralverband Deutscher Schuhwarenhändler empfiehlt seinen Mitgliedern, Kundmachungen folgenden Inhalts auszuhängen: »Die jetzt in den Handel komenden Waren können aus Mangel an guten Rohstoffen und Arbeitskräften nicht mehr wie früher hergestellt werden. Wir machen darauf aufmerksam, daß für diese Kriegserzeugnisse keine Gewähr für gute Haltbarkeit sowohl der verwendeten Stoffe als auch der Arbeitsausführung geleistet werden kann. Der Käufer macht seinen Einkauf auf eigene Gefahr, weil der Händler gezwungen ist, in Zukunft jede Beanstandung abzulehnen.« – In mehreren Großberliner Schuhgeschäften sieht man ähnliche Bekanntmachungen schon seit einiger Zeit.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1917 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Rationierung der »Glimmstengel«
Jetzt stehen auch die Männer an
Nicht nur das Essen wurde immer knapper im Verlauf des Krieges. Der Mangel ergriff alle Lebensbereiche. Kleidungsstücke aus Baumwolle waren in der zweiten Kriegshälfte auf legalem Weg praktisch nicht zu erwerben, nachdem der Rohstoff nicht mehr importiert werden konnte. Die Textilindustrie stellte daraufhin auf die Produktion von Kleidung aus Brennnesselfasern und vor allem Papiergarnen um, die als vergleichsweise reißfest galten. Um die Bekleidung notdürftig zusammenhalten zu können, standen zwar Nähkurse hoch im Kurs, aber je länger der Krieg dauerte, desto mehr bot die Bevölkerung ein äußerlich zerlumptes Erscheinungsbild.
Engpässe entstanden auch in der Lederherstellung. Sohlen- und Oberleder für Schuhe sowie andere Ledersorten wurden requiriert. In der Folge musste sich die Zivilbevölkerung zunehmend mit Schuhsohlen aus Lederabfällen, Holz oder Filz begnügen, selbst gepresstes und geteertes Papier wurde dafür verwendet. Die Kundschaft bevorzugte allerdings die unbequemeren Holzsohlen, da sie bei Regen und Schnee zumindest nicht aufweichten.
Mit zunehmender Kriegsdauer stiegen auch die Preise für Tabak, und das Angebot sank, denn besonders die Zigarren bestanden vorwiegend aus importierten Tabaken, deren Einfuhr von der Blockade der Alliierten betroffen war. Das traf vor allem die männliche Bevölkerung sehr schwer. So wurden die Männer mit Zigarre auf der Straße selten, stattdessen bürgerte sich immer mehr die Zigarette ein, deren Tabak aus den Balkanländern eingeführt
werden konnte. Aber auch hier gab es Einschränkungen, da ein nicht unerheblicher Teil der Produktion für Heereszwecke beansprucht wurde. mr