Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 78 – Dienstag,  3. April 1917
Weitere Einschränkung des Papierverbrauchs. Nunmehr wird auch die Herstellung von Büchern und Zeitschriften eingeschränkt. Der Reichskanzler hat soeben eine Bekanntmachung erlassen, durch die für die Zeit vom 1. April bis 30. Juni das Kontingent auf 90 v. H. derjenigen Menge festgesetzt wird, die – berechnet auf einen Zeitraum von 3 Monaten – im Vorjahre zur Herstellung von Büchern und Zeitschriften verwendet worden ist. – Hoffentlich werden nun auch die Behörden etwas sparsamer mit Papier. Es kommt aber nicht darauf an, daß sie ihre Aktenbogen um die Hälfte verkleinern, sondern sie sollten auch die Herstellung von Aufklärungsschriften, neuen Zeitschriften und dergleichen ein klein wenig beschränken.

Nr. 80 – Donnerstag,  5. April 1917
Die Nachteile der Katzensteuer. Die von den zuständigen preußischen Ministern vor einigen Jahren den Gemeinden selbst empfohlene Katzensteuer hat sich nicht bewährt. Wie die Minister für Finanzen und des Innern jetzt in einem gemeinsamen Erlaß betonen, hat eine Stadt die Katzensteuer nach kurzem Bestehen wieder aufgehoben, weil die Katzen nach Einführung der Steuer in so großer Zahl abgeschafft wurden, daß sich eine starke Ratten- und Mäuseplage bemerkbar machte. Auf die Anfrage eines Oberpräsidenten, ob Städte mit etwa 6400 Einwohnern zu den Landstädten zu rechnen sind, für die nach dem erwähnten Runderlaß der Minister vom 8. März 1912 eine Katzensteuer als für ländliche Verhältnisse ungeeignet ausgeschlossen bleiben solle, erklären die Minister, daß dies lediglich nach den besonderen Verhältnissen der betreffenden Städte zu beurteilen sein wird. Im allgemeinen wird während der Kriegszeit Städten, die eine solche Steuer planen, Entgegenkommen zu zeigen, der Steuerordnung aber nur für beschränkte Zeit zuzustimmen sein.

Nr. 81 – Freitag,  6. April 1917
Eichhörnchen auf der Tafel. Der Krieg zeitigt die merkwürdigsten Erscheinungen. In einem Lebensmittelgeschäft der Potsdamer Straße lagen, als neueste Feinkost Eichhörnchen, sauber ausgeschlachtet, das Stück zu 2,25–2,50 M. Daß der muntere Nager eßbar ist, war bisher nicht bekannt. Er wurde nur seines Pelzes wegen gejagt und als Schädling abgeschossen.

Nr. 82 – Sonntag,  8. April 1917
Der Krieg mit Amerika. Washington, 6. April. Das Repräsentantenhaus hat die Kriegsresolution mit 373 gegen 50 Stimmen angenommen.
Washington, 6. April. Reuter meldet: Präsident Wilson hat den Kriegszustand mit Deutschland unterzeichnet.

Nr. 98 – Sonnabend,  28. April
Werft keine Konservenbüchsen fort! In der nächsten Zeit werden in Neukölln Tausende von Konservenbüchsen geleert werden. Früher wurden die leeren Konservenbüchsen einfach dem Müllkasten einverleibt, heute aber wäre dies eine unverzeihliche Materialverschwendung. Es empfiehlt sich daher, in den Höfen aller Häuser Neuköllns Kisten oder ähnliche Behälter aufzustellen und diese durch entsprechende Aufschrift als Sammelbehälter für Konservenbüchsen zu bezeichnen. Den Mietern ist dadurch Gelegenheit geboten, die leeren Blechbüchsen deisen Behältern einzuverleiben, aus welchen unsere Schulkinder dieselben für die hiesige Brockensammlung gern abholen werden. Die Herren Hausbesitzer bzw. Verwalter sowie das Publikum werden gebeten, dieser Anregung im vaterländischen Interesse zu entsprechen.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1916 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

»Recht ist kostbarer als Frieden«

Die USA betreten das europäische Schlachtfeld

Lange setzt der amerikanische Präsident Woodrow Wilson alles daran, die USA vom Kriegsgeschehen in Europa fernzuhalten, vor allem deshalb, weil die große Masse der Amerikaner keine Lust verspürt, ihre Kinder in den Krieg jenseits des Atlantiks zu schicken. Nicht zuletzt diese entschiedene Haltung trägt 1916 zu seinem Wahlsieg bei.

»I want you for U.S. Army«                                                                                         Rekrutierungsplakat, USA, 1917

Den uneingeschränkten U-Boot-Krieg des Kaiserreichs, dem auch Passagierschiffe wie die Lusitania zum Opfer fallen, beantwortet er nur mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen.
Im deutschen Kaiserreich tobt derweil der Machtkampf um die Führung des Krieges und seine Ziele.
Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg sucht die Annäherung an Amerika, Admiral Tirpitz tritt für den bedingungslosen U-Boot-Krieg ein, um Großbritannien in die Kapitulation zu zwingen und das Patt im kontinentalen Stellungskrieg aufzulösen. Die Oberste Heeresleitung unter Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff rät zunächst vom verschärften Seekrieg ab, weil dann Amerika in den Krieg eingreifen könnte, schwenkt aber Ende 1916 um. Am 9. Januar 1917 verkündet Kaiser Wilhelm II., dass der maritime Terror ab dem 1. Februar wieder aufgenommen werden solle.
Den Ausschlag für Amerikas Eintritt in den Krieg gibt aber eine Depesche von Arthur Zimmermann, Staatssekretär im Auswärtigen Amt in Berlin. Er unterbreitet dem mexikanischen Präsidenten Venustiano Carranza das Angebot, Deutschland werde sein Land, sofern es Amerika den Krieg erklären sollte, dabei unterstützen, »dass Mexiko in Texas, Neu-Mexiko, Arizona früher verlorenes Gebiet zurückerobert«. Der britische Geheimdienst fängt das verschlüsselte Telegramm ab und spielt es der US-Regierung zu.
Jetzt handelt Wilson. Am 2. April hält er im Kongress eine Rede, in der er pathetisch zur Verteidigung der Freiheit und zur Teilnahme am Kreuzzug der Demokratien gegen aggressive Autokratien aufruft. Am 6. April erklärt Amerika den Kriegseintritt: »Es ist schrecklich, dieses große friedliebende Volk in einen Krieg zu führen. Doch Recht ist kostbarer als Frieden«. 

mr