Wenn das Leben früh aus den Fugen gerät

Über den Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und Sucht

Chaim Jellineks kleine Sucht.                   Foto: pr

»Im Allgemeinen verfallen nur solche dem gewohnheitsmäßigen Alkoholmissbrauch, die einen schwachen Willen haben und denen eine gewisse seelische Minderwertigkeit angeboren ist.« Bella Müller »Die Familienärztin – ein ärztliches Nachschlagebuch«, 1929.
Vieles von diesem Gedankengut ist bis in die Gegenwart lebendig. Noch heute ist es so, dass Sucht selbst in Arztpraxen nicht auf Augenhöhe behandelt wird. Geht ein Patient mit einer Gicht zum Arzt, redet er mit dem Patienten auf Augenhöhe, kommt er mit erhöhten Leberwerten oder gar einer Hepatitis C, ändert sich das Verhältnis schlagartig. Der Arzt als Gott im weißen Kittel schaut abfällig hinab auf den Entgleisten, so dass sich der Patient seines Leidens schämen soll. Das tut er und weiß es auch im Vorfeld, weil sich seine Umwelt ebenso verhält. Das wiederum hat zur Folge, dass der Kranke den Arzt erst dann aufsucht, wenn die Krankheit sehr weit voran geschritten ist. Sucht wird aus Scham geheim gehalten. So weit ist die alte Denkweise noch immer in den Köpfen.Eine Ausnahme bildet Chaim Jellinek mit seiner Methadonpraxis in der Morusstraße. Im Gespräch stellt er fest, dass Sucht nur dann zustande kommen kann, wenn die Droge hilft. Der Konsument empfindet die Droge als Unterstützung. Es geht ihm besser. Beispielsweise fühlt er sich sicherer. Er kann auf Menschen zugehen, fühlt sich befreiter. Sobald er die passende Droge entdeckt hat, bleibt er dabei. Besonders sind junge Menschen während der Pubertät bedroht, eine Zeit, in der alles aus den Fugen gerät, sich alles neu sortieren muss. Dabei, betont er, sind selbstsichere junge Menschen, die auf eine unbeschwerte Jugend zurückblicken können, weniger gefährdet als die Jugendlichen, die bereits in jungen Jahren Erfahrung mit häuslicher Gewalt hatten.
In diesem Zusammenhang verweist er darauf, dass im Durchschnitt pro Woche in Deutschland drei Kinder im häuslichen Umfeld getötet und 40 Kinder pro Tag misshandelt werden. Die­se Zahlen geben noch keine Auskunft über die Dunkelziffer, auch nicht über die an Kindern ausgeübte psychische Gewalt. Die beginnt bereits beim Streit der Eltern. Bis zum sechsten Lebensjahr können Kinder nicht anders, als die Schuld an den elterlichen Konflikten bei sich zu suchen. Sie sind auf die Eltern angewiesen. Sie sind Vorbilder und die können nichts falsch machen. Erst später sind sie in der Lage, sich zu entziehen und ein eigenes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Zurück bleibt allerdings eine große Unsicherheit gegenüber dem Leben, die dann später zu einer Suchterkrankung führen kann.
Aus diesem Grund sieht er die Notwendigkeit, dass sich der Staat kümmert. Er fordert ein genaues Hinsehen der Behörden. Fachpersonal in den Schulen und Kitas sollen früh erkennen, welche Kinder Opfer häuslicher Gewalt sind und handeln. Das können Lehrer nicht leisten, die sind für die Lehre zuständig. Das kostet eine Menge Geld. Das aber sollte da sein, denn wenn die späteren Jugendlichen abrutschen, kosten sie noch mehr. Falko Liecke, Neuköllner Stadtrat für Jugend und Gesundheit, hat bereits den Besuch von Mitarbeitern des Jugendamtes in Familien verstärkt, aber das reicht auch in seinen Augen nicht aus.
Das Problem ist, dass wenn der Senat für die Kleinsten Gelder bewilligt, alle Stadtteile davon profitieren wollen. In Zehlendorf oder Charlottenburg gibt es jedoch vergleichsweise weniger häusliche Gewalt und Suchterkrankungen. In Neukölln hingegen, wo ohnehin alles etwas rauer ist, wären solche Gelder dringend erforderlich. Und so wird Jellinek überrannt von Suchtkranken mit schauerlichen Lebensgeschichten, die irgendwie versuchen, wieder am normalen Leben teilzuhaben.
ro