Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 1 – Mittwoch, 3. Januar 1917
Der Jahreswechsel wurde in Neukölln in stiller Weise gefeiert. Die Lokale hatten sich zahlreichen Besuches zu erfreuen, aber die Stimmung der Gäste entsprach meist dem Ernste der Zeit. Auf den Straßen wurde es etwas lebhafter, als um 12 Uhr die Kirchenglocken feierlich das neue Jahr einläuteten. Auch als um 1 Uhr die sämtlichen Lokale ihre Gäste entließen, herrschte eine Zeitlang auf den Straßen reges Leben. Allgemeines Aergernis erregten beim Publikum zahlreiche halbwüchsige Burschen und Schuljungen, welche mit Feuerwerkskörpern und Schußwaffen stundenlang auf den Straßen den ärgsten Unfug trieben. Der Neujahrstag selbst verlief in Neukölln in ruhigster Weise.

Nr. 3 – Freitag, 5. Januar 1917
Ein Vater der Stenographie. Am 8. Januar jährt sich zum 50. Male der Todestag Stolzes, des Begründers der nach ihm benannten Stenographie. Stolze, ein Berliner Kind, und von Beruf Versicherungsbeamter, wandte bereits in seinen Jugendjahren sein Hauptarbeitsinteresse dem Ausbau eines zweckmäßigen Kurzschriftsystems zu. Als im Jahre 1835 die Gabelsbergersche Anleitung zur Redezeichenkunst erschien, entschloß er sich, seine sichere Anstellung aufzugeben, um sich ganz dem zu widmen, was er als seine Lebensaufgabe anzusehen gelernt hatte: der Festlegung einer idealen, allen Forderungen genügenden deutschen Stenographie.

Franz Xaver Gabelsberger (links) und Wilhelm Stolze. Die Väter der deutschen Kurzschrift. Foto: Bundesarchiv

In seinen Ansprüchen an ein derartiges System ging er noch über die Gabelsberger hinaus, der in seiner Kurzschrift hauptsächlich ein Mittel zum schnellen Nachschreiben geben wollte; Stolze wollte mit seiner Stenographie eine weitgehende Erleichterung bei jeder umfangreichen Schreibtätigkeit gewährleisten und legte daher großes Gewicht auf Geläufigkeit, Zuverlässigkeit und leichte Lesbarkeit. »Die vollständige Bezeichnung aller Laute, jedes einzelnen Wortes«, so äußerte er sich selbst, »muß vorhanden sein, jeder Laut muß durch einen Buchstaben, jeder fehlende Laut durch eine Regel vertreten sein.« Mit unermüdlichem Fleiß, echt deutscher Gründlichkeit und bewundernswerter Selbstkritik strebte er seinem Ziele nach. Nachdem er bis 1838 noch kaufmännisch tätig gewesen war, widmete er sich von da ab vollständig der Ausarbeitung seiner Kurzschrift, deren Regeln er in dem 1841 erschienen »Theoretisch=prakt­ ischen Lehrbuch der deutschen Stenographie« niederlegte. Bald eroberte sich das neue System weite Kreise, und im Jahre 1844 wurde zu Berlin der erste Stenographen=Verein des Festlandes gegründet. Wenn jetzt auch, hauptsächlich durch die Ausgestaltung des Systems Stolze=Schrey, die altstolzesche Stenographie, wie sie genannt wird, mehr und mehr aus Schreibstuben und Hörsälen verschwindet, so sollte doch nicht vergessen werden, was die deutsche Stenographie dem Meister Stolze verdankt, der ihr neben Gabelsberger die erste feste Grundlage gegeben hat.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1916 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Frau Müller kommt nicht mehr zum Diktat

Stenographie – eine Kunst verschwindet

Während Politiker sich im Parlament stundenlange Debatten liefern, schreiben Stenographen mit ruhiger Hand alles auf. Mit bis zu 400 Silben in der Minute.
Diese von den antiken Griechen erfundene und im Laufe der Zeit perfektionierte Schriftkunst kam bereits bei Sitzungen des Römischen Senats zum Einsatz und blieb seitdem eng mit dem Parlamentarismus verbunden. Hier hat die Stenographie auch heute noch ihre letzte Bastion. Dabei gilt es, nicht nur das gesprochene Wort, sondern auch die Emotionen, die es begleiten, einzufangen. Die Protokolle sollen etwas wiedergeben von der Atmosphäre während einer Sitzung, Zwischenrufe, Beifallsbekundungen, Störversuche. »Lachen auf der Linken«, »Beifall bei der der SPD« – alles wird mitgeschrieben, jedenfalls soweit es wahrnehmbar ist. »Beifall« oder »Heiterkeit« steht dann im Protokoll. Dabei müssen auch die Namen der jeweiligen Abgeordneten notiert werden. Solche Zusatzinformationen kann keine Technik erfassen. Das ist auch der Grund, wieso in den Parlamenten die Kurzschrift wohl immer gebraucht werden wird.
In anderen Bereichen der Arbeitswelt hat die Technik den linierten Stenoblock weitgehend abgelöst. »Frau Müller, zum Diktat bitte« – diesen Spruch hört heute kaum noch eine Sekretärin. Computer, Diktiergeräte und Spracherkennungsprogramme verdrängten in Gerichtssälen, Universitäten und Unternehmen die einst unentbehrliche Fertigkeit.
Anfang des 20. Jahrhunderts dagegen war die Stenografie in der Bevölkerung Mitteleuropas vergleichsweise weit verbreitet. Sie gehörte beispielsweise zur Ausbildung der Stabsoffiziere im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Auch in der Justizausbildung war sie fest etabliert.
Viele Akademiker nutzten die Stenografie als Arbeits- und Konzeptschrift und verfassten teilweise umfangreiche Entwürfe, Vorlesungsskripte oder Forschungsberichte in Stenografie.
Unentbehrlich war das Beherrschen der Kurzschrift für die Arbeit von Stenotypistinnen oder Sekretärinnen, die Diktate für Briefe aufzunehmen und dann mit der Schreibmaschine oder dem Fernschreiber zu übertragen hatten.
Heute wird Steno insbesondere für schnelle Aufzeichnungen in Besprechungen, Konferenzen, Verhandlungen oder für das Anfertigen von Entwürfen, Merkzetteln oder Telefonnotizen verwendet.
Seit den 1990er Jahren wurde der Kurzschriftunterricht als Pflichtfach an Real- Berufs- und Wirtschaftsschulen, nach und nach eingestellt. Das hat zur Folge, dass die Stenografie im Büroalltag nur noch selten genutzt wird. 

mr