Mandy schweigt
Mandy lackiert sich die Fußnägel und sieht mich nicht an. Wir sitzen auf ihrem kleinen Balkon mitten im Rollbergviertel und sie schweigt schon seit mindestens fünf Minuten. Das ist, seit wir uns kennen, noch nie passiert. »Mandy, was hätte ich denn machen sollen? Ich habe alles versucht.« Zwischen ihre Zehen hat sie kleine, lange, schmale, selbstgemachte Abstandhalter aus Pappe geschoben. »Du weißt ganz genau, dass ich ein halbes Jahr lang nichts anderes mehr gemacht habe, als eine Wohnung in Neukölln zu suchen. Jeden Tag habe ich direkt nach dem Aufwachen und noch vor dem Aufstehen in meine Mails und Apps geguckt. Jeden Tag habe ich mindestens fünf Besichtigungstermine vereinbart. Jedes Mal waren zwischen 60 und 100 Leute zur Besichtigung von 30-40 Quadratmeter-Wohnungen dort. Und niemand hier in Neukölln wollte mich, trotz Arbeitsvertrag, Schufa-Auskunft und allem. Verdammt, du weißt das!« Jetzt lackiert sie ihre Fingernägel. Jeder Nagel, auch an ihren Füßen, hat eine andere Farbe: Lila, Grün, Zitronengelb, Türkis, Blutrot, Himmelblau, Neonpink … Als sie fertig ist, lehnt sie sich im Liegestuhl zurück und schließt die Augen. »Mandy, jetzt sprich doch bitte endlich wieder mit mir. Es ist nur der Wedding. Ich ziehe doch nicht weg aus Berlin!« Aus ihrer Richtung kommt ein schlimmes, tiefes, grollendes Knurren. Jan Klode, der American Staffordshire Terrier von Mandys Freund Khalid, liegt unter ihrem Stuhl und hat im Baum vor uns ein Eichhörnchen entdeckt. »Photoshop, ich weiß. Ich hätte einfach eine oder zwei Nullen mehr auf meineVerdienstbescheinigung machen sollen. Und anstatt Literaturwissenschaftler wäre ich wahrscheinlich besser Firmenbesitzer, Geschäftsinhaber oder am besten Sohn reicher Eltern gewesen. Aber, verdammt nochmal, das bin ich nicht!« Nach einerkurzen, stillen und dann doch langen Pause füge ich noch hinzu: »Außerdem wird die Distanz zu Neukölln meinem Blick auf denKiez und mir gut tun. Mich wird nicht mehr jede neue, superhippe, internationale Shabby-Chic-Bar, jede x-te, ausschließlich englischsprachige, aktuell absolut angesagte Galerie, jedes bei der Eröffnung Menschenaufläufe und Straßensperrungen verursachende Expat-Design-Restaurant und jeder zigste Chichi-Streetfood-Event mit entsprechendem Publikum aufregen.« Wieder kommt ein grausames, bedrohliches, tiefes Knurren aus ihrer Ecke. Dieses Mal sagt sie mit unverändert geschlossenen Augen: »Raus mit dir! Oder halte endlich den Mund!« Und ihre knallroten Lippen haben sich dabei nicht einmal bewegt, ich bin mir sicher.
fs