Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

NK_Tagblatt-Kopf

Nr. 129 – Sonnabend, 3. Juni
Keine »Kriegswurst« an fleischlosen Tagen. Sogenannte Kriegswurst, die aus Blut, Semmel und flüssigem Fett hergestellt wird, haben in letzter Zeit= Gast= und Schankwirte an den fleischlosen Tagen ihren Gästen wiederholt verabfolgt. Dieses Verfahren muß aber, wie auch von den Vertretern der Gastwirtsvereine anerkannt wird, als unlauterer Wettbewerb angesehen werden, weil es auf eine Täuschung der Käufer berechnet ist, die glauben sollen, es handle sich um wirkliche Fleischwurst. Die Herstellung und Verabfolgung derartiger Wurst an den fleischlosen Tagen ist deshalb untersagt.

Nr. 129 – Sonnabend, 3. Juni

Einkochapparat
Durchhalteparolen in der Werbung.Anzeige im Neuköllner Tageblatt

Im Hinblick auf die bevorstehende Obsternte wird dringend davor gewarnt, beim Einkochen von Obstmus, Marmeladen, Fruchtsäften und dergleichen verzinkte Stahlblechgefäße zu verwenden, weil Fruchtsäuren geeignet sind, Zink zu lösen. Es gibt überhaupt keine verzinkten Gefäße, bei deren Benutzung zur Zubereitung von Lebensmitteln die Abgabe von Zink schlechthin ausgeschlossen ist. Zum Einkochen von Obstdauerwaren eignet sich auch nicht gewöhnliches eisernes Geschirr, weil solches an die betreffenden Lebensmittel Eisen abzugeben vermag, wodurch diese unter Umständen ungenießbar und somit unbrauchbar werden. Es muß aber gerade in der gegenwärtigen Zeit durchaus vermieden werden, daß Lebensmittel der menschlichen Ernährung verloren gehen. Es empfiehlt sich daher, beim Einkochen der oben genannten Obstzubereitungen anstelle des sonst üblichen Kupfergeschirrs Emaillegeschirr zu verwenden. Vielfach werden mehrere verwandte, bekannte oder befreundete Familien in der Lage sein, gemeinschaftlich einen Kessel zu benutzen, was auch aus dem Grunde ratsam ist, damit nicht infolge zu großer Nachfrage ein Mangel an Emaillegeschirr eintritt.

Nr. 138 – Donnerstag, 15. Juni
Das »Salatöl in der Tüte«. Welche »Blüten« die jetzt so üppig ins Kraut schießende Ersatzindustrie auf dem Nahrungsmittelgebiet treibt, zeigt ein in den Handel gebrachtes Produkt mit der Bezeichnung »Salat=Oel in der Tüte«. Der Erfinder dieses problematischen Saftes gibt von seinem Salatöl selbst folgende Analyse: Pflanzliches Produkt, kein Oel, konserviert, leicht gefärbt, besser und bekömmlicher als die im Handel befindlichen Salatöl=Ersatzmittel. Die Untersuchung dieses »Salatöls« hat nun ergeben, daß es aus gelbgefärbten Algen besteht, denen etwa 25 Prozent Kochsalz zugesetzt worden sind. Die Konsumenten tun also nach diesem Ergebnis am besten, wenn sie von diesem »Salatöl« sagen: »nicht in die Tüte!«

Nr. 151 – Freitag, 30. Juni
Die Eisenbahndirektion gegen unhöfliche Schaffner. Die Eisenbahndirektion hat sich veranlaßt gesehen, an alle Stationen und Betriebsämter eine Verfügung zu richten, in der es heißt; „Es wird erwartet, daß fortan jeder Bahnsteigschaffner – auch der aus der Rotte gestellte Ablöser – sich den Reisenden gegenüber stets zuvorkommend und höflich beträgt, bei Auseinandersetzungen mit dem Publikum die Ruhe bewahrt und Streitigkeiten unter allen Umständen vermeidet. Die Dienststellen werden danach angewiesen, die Bahnsteigschaffner zu belehren und auf ihr gutes Benehmen zu achten.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1916 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Kriegswurst und Tütenöl

Ersatzlebensmittel prägen den Speiseplan im Krieg

Rationierungen, Lebensmittelkarten und der zunehmende Anteil von Ersatzstoffen prägten 1916 den Alltag der deutschen Haushalte. Lebensmittel waren knapp und Nachschub nicht zu erwarten. Wegen unzureichender Fleischversorgung wurden bereits seit 1915 der Dienstag und der Freitag zu fleischlosen Tagen erklärt. Die Behörden sahen in der Rationierung den einzigen Ausweg, nachdem es für Fleisch praktisch keinen Ersatz gab.
Andere Grundnahrungsmittel wie Brot und Mehl, Eier oder Milch waren nur noch über Bezugsscheine zu bekommen. Aber auch diese knapp bemessenen Rationen konnten nicht immer garantiert werden.
Abgesehen von den Einschränkungen beim Konsum versuchte man, die Versorgungskrise mit Hilfe sogenannter Ersatzlebensmittel in den Griff zu bekommen. Sie ersetzten die Lebensmittel, die nicht mehr verfügbar waren. Einige, wie Margarine, Kunststreichfett, Kunsthonig, Kaffeeersatz, alkoholfreie Getränke und Brühwürfel waren bereits aus Friedenszeiten bekannt, wo sie vor allem als Ersatz für teurere Lebensmittel dienten. Einige dieser neu erfundenen Produkte gibt es bis heute. Dazu zählen Fertig­suppen, Backmischungen und Vanillinzucker.
Unter der Vielzahl der Ersatzmittel waren allerdings auch solche, die dem Original nur im Aussehen ähnelten. Zumeist hatten sie keinerlei Nährwert, manche waren sogar gesundheitsschädlich.
Neben der ständigen Suche nach Ersatzstoffen wurden viele Lebensmittel gestreckt. Dem Brot wurde Kartoffelmehl zugesetzt, die Milch mit Wasser verdünnt, der Wurst Wasser, pflanzliche Rohstoffe und unverdauliche tierische Abfälle beigemischt. Fleischbrühwürfel wurden aus gewürztem Salzwasser, Eiersatz aus gefärbtem Mais- und Kartoffelmehl hergestellt. Bei Kriegsende befanden sich etwa 11.000 verschiedene Ersatzlebensmittel auf dem Markt, darunter 837 Sorten fleischloser Wurstersatz. 

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