Stammgäste pflegen Erinnerungen an goldene Zeiten
Kiez und Kneipe Neukölln erscheint monatlich und wird vom Redaktionsteam selbst ausgetragen.
Mit Neukölln wird überwiegend der dicht besiedelte, innerstädtische Norden unseres Bezirks gleichgesetzt. Die Wahrnehmung des Neuköllner Südens bleibt weitgehend gering, obwohl er mit seinen Ortsteilen Britz, Buckow, Gropiusstadt und Rudow flächenmäßig doppelt so groß ist.
Um möglichst viele Kiezbewohner zu erreichen, liegen unsere Zeitungen nicht nur in Kneipen aus, sondern auch in Restaurants, Konditoreien, Läden oder ausgesuchten Warteräumen. Als Britzer im Team obliegt mir nun dieser ganze Süden. Hier ist zwar die Anzahl der Auslegestellen weit geringer als im ach so angesagten und hippen Norden, dafür beträgt, meine Tourstrecke über 30 Kilometer. Gehört die Berliner Kneipenkultur bald der Vergangenheit an? Vor 150 Jahren hatte Berlin noch die höchste Kneipendichte Europas. Auf 150 Einwohner kam eine Wirtschaft. Vier Lokale an einer Straßenkreuzung waren damals normal und prägten den Begriff der Eckkneipe. 1930 gab es noch 30.000 lizensierte Lokalitäten, während die Berliner Statistik für 2011 nur noch 1.205 reine Kneipen ausweist.
Meine Verteilertour zeigt: Es gibt das »zweite Wohnzimmer« noch immer. »Zu mir kommen überwiegend Stammgäste«, versichern fast alle Wirtsleute stolz. Und dieser Stamm der Gäste hängt oft leidenschaftlich an seinem Treffpunkt. Und trauert auch schon einmal sichtbar, wenn sein »Zimmer« verschwindet. So standen noch Wochen nach Schließung des Britzer »Doppelochsen« wegen eines Todesfalls vor dem Eingang Blumen und Kerzen.
Der Legende nach haben Stammgäste ihrem Lokal »Zum goldenen Esel« in Britz ein riesiges Denkmal gesetzt. Das Haus der Kneipe, Mohriner Allee Ecke Buckower Damm, wurde wegen der Bundesgartenschau abgerissen. Seit 1985 gibt es an gleicher Stelle eine überlebensgroße, sitzende Grautier-Silhouette des Bildhauers Eckhart Haisch. Die darf, als sichtbares Zeichen der Vergänglichkeit, rosten. Das einst golden schimmernde Denkmal wurde so zum »Rostesel«. Doch stets mit einem goldenen Huf, den Unbekannte seither immer wieder mit Goldfarbe auffrischen.
rr