Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

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Nr. 82 – Donnerstag, 6. April 1916
Einen eigenartigen »Sport« treibt der 20jährige Straßenbahnfahrer Willi L. aus der Bodestraße (heute Altenbraker Straße Anm. d. Red.). Sobald er an dem Finger einer Dame einen sogenannten »Kriegsring« gewahrt, bekundet er für denselben ein außerordentliches Interesse und läßt sich den Ring schließlich zur näheren Besichtigung geben. Ist dies geschehen, steckt er den Ring ein, und wenn die Damen auch noch so heftig protestieren, ihren Ring erhalten sie nicht zurück. Wird eine Dame aber energisch, so erklärt L. bedauernd, daß er den Ring leider verloren habe. Der eigene Vater des L. teilt uns dies zur Warnung der Damen mit und bemerkt dabei, daß er von Geschädigten, die ihren Ring zurückhaben wollen, förmlich überlaufen werde.

Nr. 83 – Freitag, 7. April 1916
Ein nichtsnutziger Bengel. In Köpenick wurde ein neunjähriger Knabe aus Neukölln aufgegriffen. Aus den Erzählungen der Mutter, einer Kriegerfrau, die das Bürschchen auf der Polizei in Empfang nahm, geht hervor, daß der Junge einen unwiderstehlichen Hang zum Vagabondieren besitzt. Er bestiehlt seine Mutter, wo er nur kann: neulich erst war er mit 10 M. nach Potsdam gefahren. Von der Polizei mittellos zurückgebracht war er nur einen Tag in der Wohnung. Als ihm die Mutter 20 Pfg. zum Haarschneiden einhändigte, verschwand er mit dem Gelde, bis sie ihn hier abgerissen wiederfand, nachdem er sich mehrere Tage herumgetrieben. Jedenfalls hat er sich mit Betteln durchgeschlagen, wie er es schon in Britz gemacht hat, wo er an­gab, sein Vater sei gefallen und er habe noch 7 kleine Geschwister. Es dürfte geraten sein, den Knaben in Fürsorgeerziehung zu bringen, ehe er noch tiefer sinkt.

Nr. 85 – Sonntag, 9. April 1916
Förderung der Kaninchenzucht. Das preußische Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten hat an sämtliche Landwirtschaftskammern und den Landwirtschaftlichen Verein in Sigmaringen einen Erlaß gerichtet, in dem es heißt: Mit Rücksicht auf die Knappheit an Fetten und insbesondere an Fleisch, die sich während des Krieges noch weiter steigern dürfte und auch noch längere Zeit nach dem Kriege andauern wird, erscheint es geboten, den Zweig der Kleintierzucht, für den die Futterfrage verhältnismäßig am günstigsten liegt, die Kaninchenzucht, nach Kräften zu fördern. Sie ermöglicht es gerade demjenigen Teile der Bevölkerung, der unter den hohen Fleischpreisen mit am meisten leidet, den Arbeitern und kleinen Beamten, sich durch Verwertung seiner Haus= und Wirtschaftsabfälle einen großen Teil seines Fleischbedarfs billig selbst zu erzeugen.

Nr. 92 – Dienstag, 18. April 1916
Die Tragödie des Einsamen. In selbstmörderischer Absicht durchschnitt sich der Schlosser August Roland auf einem Bauplatz in der Pflügerstraße zwei Adern. Als Grund zur Tat gab er an, er sei des Lebens überdrüssig, da er ohne Angehörige dastehe. Er wurde nach dem Krankenhaus Buckow gebracht.

Nr. 92 – Dienstag, 18. April 1916
Hier können Familien Kaffee kochen. Die Kriegswirtschaft, die mit mancher lieben Gewohnheit aufräumte, hat jetzt ein weiteres Opfer gefordert. Es wird fortan mit dem alten Brauch des Familienkaffeekochens gebrochen. Die Inhaber der Sommerlokale an der Oberspree haben sich infolge der Milchknappheit und sonstiger den Betrieb verteuernder Umstände zu einer Erklärung veranlaßt gesehen, daß sie bei gleichzeitiger Preiserhöhung nur noch Kaffee in Kannen verabreichen werden. Der Verein der Lokalbesitzer an der Oberspree hat einen Beschluß in diesem Sinne gefaßt. Die Treptower Gastwirte wollen sogar nur noch Kaffee in Tassen abgeben.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1916 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Volksbelustigung im Jrünen mit selbstgekochtem Kaffee

Berliner Brauch erlaubt auch den Armen den Besuch der Ausflugslokale

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»Hier können Familien Kaffee kochen«.                                                  Gemälde von Hans Baluschek 1895.

Am Beginn des 20. Jahrhunderts lebten die Menschen in Neukölln dicht gedrängt und mit vielen Kindern in einem oder zwei Zimmern. Deshalb mussten sie einen Weg finden, aus dem steinernen Meer der Stadt ins Grüne zu kommen. Unter der Woche ergriffen die Männer die Flucht in die Eckkneipen, die es nicht nur an den Ecken gab. Aber sonntags zog das Volk zum Rummel auf die Hasenheide, in die Cöllnische Heide oder zum Strand der Spree, um die freie Zeit in frischer Luft mit der Familie zu verbringen. Allein die Fahrt dahin, per Pferdewagen oder Fahrrad, konnte Stunden dauern. Picknick war die eine Form der Verpflegung, sich im »Kaffee- und Biergarten« bei Bier und Schlachteplatten unterhalten zu lassen, die andere beliebte Möglichkeit.
In Treptow gab es schon seit dem 18. Jahrhundert ein bekanntes Gasthaus namens »Spreebudike«, das viele Berliner Ausflügler anzog. Als ab 1779 der preußische König Friedrich II. im Rahmen der Binnenkolonisation dort sächsische Kolonisten ansiedelte, begannen diese ebenfalls, die Ausflügler zu bewirten und eröffneten ein Ausflugslokal nach dem anderen. Allerdings weigerten sie sich, die Getränkekonzessionen zu zahlen. Als ihnen daraufhin der Ausschank verboten wurde, kam eine Kolonistin auf die Idee, nur noch das kochende Wasser zu verkaufen. Den gemahlenen Kaffee und manchmal auch den Kuchen brachten die Gäste von zuhause mit. Den kinderreichen, aber ansonsten armen Arbeiterfamilien war das mehr als recht, und so verbreitete sich die Geschäfts­idee und der Slogan »Hier können Familien Kaffee kochen« bald im gesam­ten Berliner Umland.
Daraus entwickelte sich zwischen 1800 und 1950 eine ganze Vergnügungskultur. Einige Ausflugslokale waren regelrechte Rummelplätze mit Kasperletheater, Varieté, Theater, Tanzwettbewerben und Boxkämpfen.
Die bedrückende Wirtschaftslage während des Ersten Weltkriegs brachte aber auch Gasthäuser, Restaurants und Cafés in Schwierigkeiten, die Umsätze waren oft unzureichend. Am Ausschank von heißem Wasser verdiente der Wirt nicht viel, und manches Etablissement musste aufgeben.

mr