Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

NK_Tagblatt-Kopf

Nr. 2 – Dienstag,  4. Januar 1916
Das neue Jahr wurde in Neukölln in üblicher Weise bei Glockengeläut begrüßt. Kurze Zeit herrschte auch auf den Straßen reges Leben, wobei besonders die halbwüchsige Jugend mit Feuerwerkskörpern Unfug trieb. Die meisten Neuköllner Familien begingen den Jahreswechsel in ernster Stimmung im eigenen Heim, hat doch fast jede Familie liebe Angehörige im Felde, was eine Feststimmung nicht aufkommen läßt. Trotzdem hatten sich die hiesigen Kaffees und Gastwirtschaften eines überaus guten Besuches zu erfreuen. Als das neue Jahr begann und man sich gegenseitig unter Gläserklang beglückwünschte, war überall der innigste Wunsch, daß uns das neue Jahr den endgültigen Sieg und einen ruhmvollen, dauernden Frieden bringen möge. – Am Neujahrstage und am Sonntag machten die besten Geschäfte wieder die Kinos, die fortgesetzt überfüllt waren.

Nr. 18 – Sonnabend,  22. Januar 1916
Unhöfliche Verkäufer. Im Publikum wird häufig darüber geklagt, daß Verkäufer, namentlich aber Verkäuferinnen, in den Lebensmittelge-schäften ein unhöfliches Benehmen zeigen. Es dürfte sich empfehlen, das Beispiel des Bürgermeisters von Sommerfeld zu befolgen, der diese Bekanntmachung erließ: »Es ist bei mir Klage geführt worden, daß die Verkäufer in den hiesigen Fleischergeschäften des öfteren einige Käufer in höchst unfreundlicher, schroffer Weise bedienen. Dies ist auf das schärfste zu verurteilen. Es ist Pflicht des Verkäufers, alle Kunden gleich höflich zu behandeln, dies gilt insbesondere denen gegenüber, die infolge der herrschenden hohen Lebensmittelpreise nur wenige Ware entnehmen können; ihnen darf durch unfreundliche Behandlung ihre mißliche Lage nicht noch fühlbarer gemacht werden. Ich weise nachdrücklich darauf hin, daß ich den Namen eines jeden Verkäufers, der weiterhin ein derartiges höchst tadelnswertes Beneh- men an den Tag legt, öffentlich bekannt machen werde.«

Nr. 24 – Sonnabend,  29. Januar 1916
Ein Jahr Brotkarte. Die Einführung der Brotkarte in Großberlin kann am 22. Februar d. J. auf eine einjährige Wirksamkeit zurückblicken. Im allgemeinen hat sich die Einrichtung bewährt. Wie es bei allen Neu- einrichtungen der Fall ist, so stieß man in der ersten Zeit hin und wieder auf kleine Schwierigkeiten, aber daß sich die Brotkarte bewährt hat, ist daraus zu entnehmen, daß sie während ihres Bestehens nur unwesentliche Aenderungen erfahren hat. Jetzt allerdings erfährt die Brotkarte eine Abänderung, die von verschie- denen Seiten nicht gerade sehr angenehm empfunden wird. Sie wird in der dem einzelnen zustehenden Gewichtsmenge um 50 Gramm verringert und bei ihrem Töchterchen, der Zusatzkarte, wird sogar eine Verminderung der Brotmenge um 150 Gramm vorgenommen. Ob die städtischen Behörden mit diesen Herabsetzungen der dem bekannten Bevölkerungskopf zustehenden Brotmenge das Richtige getroffen habe, ist schwer zu entscheiden. Jedenfalls wird die neue Brotkarte und die Zusatzbrotkarte nicht allzu freudig begrüßt werden. In zahlreichen Familien, wo keine kleinen Kinder oder Säuglinge vorhanden sind, sondern nur solche schulpflichtigen Alters und darüber, herrscht jetzt schon Sorge, wo die benötigte Brotmenge hernehmen. Jedem einzelnen fehlen ja in der Woche 4 Scheiben Brot zu je 50 Gramm, und das bedeutet etwas für einen hungrigen Magen. Die städtischen Behörden haben sich die Sache sehr leicht und einfach gemacht, indem sie mit kühnem Strich 50 bzw. 150 Gramm Brotmenge herabgesetzt haben, ohne sich darüber Gewissensbisse zu machen, daß eine Familie, in der mehrere kleinere Kinder oder Säuglinge vorhanden sind, mit dem Erhalt der Brotmenge bedeutend besser gestellt ist. Hier ist mal wieder der bürokratische Amts- schimmel der Statistik bestiegen worden, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß Säuglinge und Kinder von unter 3 Jahren über unnötig hohe Brotmengen verfügen, die sie garnicht in der Lage sind zu verzehren. Hätten die zuständigen Behörden dies berücksichtigt, so hätten sie nicht die bisherige Brotmenge verringern, sondern sogar erhöhen können.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1915 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Berliner Polonaisen

Der Krieg stürzt die Stadtbewohner in Not und Verzweiflung

Mehr als in den anderen kriegführenden Staaten machte den Menschen in Deutschland die anhaltende Versorgungskrise zu schaffen. Eine Möglichkeit, den bald grassierenden Mangel vor allem bei den Grundnahrungsmitteln abzumildern, bestand in deren Ratio- nierung und ihrer amtlich kontrollierten Zuteilung.
Am 22. Februar 1915 führte Berlin als erste deutsche Stadt die Brot- karte ein. Der Tagessatz pro Person entsprach einer wöchent- lichen Ration von 2.000 Gramm Brot. Nach und nach mussten auch die anderen Grundnahrungsmittel rationiert werden. Hinzu kamen bald zahlreiche Gebrauchsgüter wie Seife und Textilien. Allerdings boten die Bezugscheine keine Garantie dafür, dass die Verbraucher die zugesagten Minimalmengen auch bekamen, da die Lieferungen häufig den Bedarf nicht decken konnten.

Lebensmittelpolonäse
Anstehen für Lebensmittel.                                                                                                                                 Foto: historisch

Es begann die Zeit der »Polonaisen«, wie die Berliner spöttisch die immer länger werdenden Schlangen vor den Läden und Markthallen nannten. Schon in der Nacht stellten sich die Frauen an, um bei Ladenöffnung das eine wöchentliche Ei, vielleicht einen halben Hering und ein paar Gramm Butter zu ergattern. Die geplagten, erschöpften Frauen wurden immer verbitterter und die Qualität der Lebensmittel immer erbärmlicher.
In den Augen der Behörden waren diese »Lebensmittelpolonaisen« ein Warnsignal. Denn aus ihnen konnten sich unliebsame Störungen der öffentlichen Ordnung entwickeln. So beobachtete ein Polizeibeamter vor den Verkaufsstellen in Berliner Arbeitervierteln Gruppen von Frauen, die »ihrem Unwillen in lebhafter Weise untereinander Ausdruck« gaben: »Es herrscht hierbei eine äußerst gereizte Stimmung unter diesen Proletarierfrauen und die Maßnahmen der Regierung erfahren häufig eine recht gehässige Kritik.« 

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