Fleiß schützt nicht vor Abstieg

Am Abgrund der Obdachlosigkeit

Wie kann es sein, dass eine arbeitswillige, gebildete, fleißige Person kurz vor der Obdachlosigkeit steht?
Anja W. war eine gute Schülerin und schloss eine Ausbildung zur Floristin ab. Sie bekam viel Anerkennung für ihre geschickten Arbeiten, und es gelang ihr, ihrem Wunschberuf und ihrer Familie gerecht zu werden. Es war eine schöne Zeit, von der sie noch heute schwärmt.

Gropiusstadt
Alte Heimat Gropiusstadt.                                                                                                                                                      Foto:mr

Nach 17 Jahren musste die Gärtnerei schließen. Anja W. verlor ihre Arbeitsstelle, und ihr Mann ließ sie mit zwei Kindern allein, das dritte Kind wurde kurz darauf geboren.

Eine feste Anstellung fand sie, trotz aller Bemühungen und Qualifika-tionen nicht. Gelegenheitsjobs und immer wiederkehrende Phasen der Arbeitslosigkeit bescherten Familie W. ein unregelmäßiges Leben voller Unsicherheiten und mit ständig wechselnden Tagesabläufen. Freunde und Nachbarn unterstützten Anja W., während die älteren Kinder nacheinander auszogen, um außerhalb Ber­lins zu studieren.
Anja W. tat alles, um auch ihrem jüngsten Kind eine gute Bildung zu ermöglichen. Sie nahm dafür selbst ihr unangenehme und körperlich anstrengende Jobs in allen Teilen Ber­lins an. Als Floristin hatte sie kein Glück mehr. Sie sei zu alt oder überqualifiziert, musste häufig Kurse besuchen, und wurde immer überqualifizierter.
Kurz vor dem Abitur ihrer jüngsten Tochter musste Anja W. um- ziehen, da die Miete ihrer Neuköllner Sozialwohnung gestiegen und damit für sie unbezahlbar war. Sie fanden sich in Pankow wieder. Es fiel ihnen schwer, die alte Heimat zu verlassen, die liebgewonnenen Nachbarn gegen Fremde zu ersetzen. Der Umgang mit Anja W. beim Arbeitsamt wurde immer unfreundlicher und rauer, sie verlor durch die vielen Misserfolge in den verschiedenen, für sie ungeeigneten Jobs ihr Selbstvertrauen und fand auch bald nicht mehr die Kraft, zwei Stunden zu ihren Freunden und ehemaligen Nachbarn zu fahren. Nachdem auch die jüngste Tochter zum Studieren Berlin verließ, wurde die psychische Belastung offensichtlich. Ein weiterer Umzug aufgrund der für eine Person zu teuren Wohnung ist Anja W. un- möglich geworden. Sie traut sich einen erneuten Ortswechsel nicht mehr zu und spart sich die Miete wortwörtlich vom Munde ab. Wenn ihre Kinder nicht für Anja W. einkaufen, ist der Kühlschrank leer. Ihr Stolz lässt es nicht zu, dass sie zu Armen-Küchen geht. Die Miete können die Kinder jedoch nicht übernehmen.
Am 1. Dezember 2015 bekam Anja W. das letzte Mal Hartz IV überwiesen. Ihr Antrag für die Frührente wurde noch nicht bearbeitet. Wann Anja W. das Geld bekommt, steht in den Sternen. Wenn die Kinder es nicht schaffen, ihre Mutter zu unterstützen, wird diese sich wohl bald in der Obdachlosigkeit wiederfinden.
yr