Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 205 – Donnerstag, 2. September 1915
Eine große Planschwiese ist durch den Wolkenbruch am Sonntag auf dem östlichen Teil des Tempelhofer Feldes entstanden; sie wird von der lieben Jugend fleißig benutzt. Rot wie die Krebse, übermütig wie losgelassene Füllen tollen die Kleinen zum Vergnügen der Großen, bald im Wasser, bald im Sande des Feldes umher. Kein künstlich hergerichteter Spielplatz war so von früh bis spät vom Jauchzen der frohen Kinderschar erfüllt, wie dieses Planschbecken.
Nr. 210 – Mittwoch, 8. September 1915
Erziehung zur Höflichkeit. Das Berliner Provinzialschulkollegium fordert in einer Verfügung die Leiter der höheren Lehranstalten auf, ihre Schüler daran zu erinnern, daß es ihre selbstverständliche Pflicht sei, in der Straßenbahn älteren Personen, die keinen Sitzplatz mehr finden konnten, den ihrigen anzubieten. – Das ist eine sehr gute und beherzigenswerte Verfügung, die auch für die Gemeindeschüler von dem gleichen Wert wäre. Gegenwärtig wird von unserer Jugend gegen die obige selbstverständliche Pflicht der Höflichkeit sehr oft gefehlt.
Nr. 213 – Sonnabend, 11. September 2015
»Alles weeß er ooch nicht!« Im Lazarett liegt müde und matt ein braver Grenadier. Er scheint ziemlich apathisch, und die Schwester sitzt mit ernster Miene an seinem Lager, um ihn sorglich zu beobachten, von Zeit zu Zeit seinen Puls zu fühlen und ihm die Kissen recht bequem zurechtzurücken. Da sie schließlich damit doch nicht die Zeit ausfüllen kann, so nimmt sie ein Gesangbuch zur Hand, liest darin still vor sich hin und wirft ab und zu Blicke auf den verwundeten Helden. Als sie dabei bemerkt, daß der Krieger seine Augen aufgeschlagen hat, beginnt sie an der Stelle, wo sie hält, laut zu lesen: »Er, der unser aller Geschicke leitet, der, hoch über uns, jedem seinen Platz bestimmt, in dessen Hand unsere Zukunft liegt, der Allwissende, wird alles zum Guten lenken, denn groß ist seine unerforschliche Weisheit und stark sein väterlicher Wille.« Eine kleine Pause der Ergriffenheit bei der Schwester! Da sagt mit schwacher Stimme und abwehrender Handbewegung der kranke Kriegersmann: »Alles weeß er ooch nicht!« – »Aber Heinecke, was sagen Sie da?« meint vorwurfsvoll die Schwester. »Der liebe Gott weiß doch alles!« – »Ach so! Sie meenen den lieben Jott! Ick dachte, Se reden von Hindenburgen!«
Nr. 222 – Mittwoch, 22. September 1915
Verwendung von Eicheln im Haushalt. Eichelkaffee ist ein Getränk, das vor einigen Jahrzehnten sehr geschätzt war und besonders gern von schwächlichen und der Kräftigung bedürftigen Personen getrunken wurde. Jetzt scheint es ganz in Vergessenheit geraten zu sein. In den teuren Kriegszeiten könnte man es ganz gewiß mit Nutzen wieder einführen, um den teuren Bohnenkaffee und das zu Malzkaffee verarbeitete Korn zu sparen. Die geschälten Eicheln schneidet man in kleine Stücke, röstet sie im Brat= oder Backofen, auch im Kaffeebrenner. Dann kann man sie wie Kaffeebohnen mahlen und aufbrühen. Auch als Zusatz zu Kakao ist die Eichel vorzüglich zu gebrauchen. Sie wirkt darmstärkend, ja sogar heilend bei ruhrartigen Erkrankungen. Zu Eichel=Kakao schält man die Eicheln wie sie sind, reibt sie auf dem Reibeeisen und setzt sie dem Kakao zu.
Nr. 222 – Mittwoch, 22. September 1915
Was geschieht mit den leeren Konservenbüchsen? Sie wandern in der Regel in den Müllkasten und kommen dann auf die Schuttabladestellen. In jetziger Zeit ist es aber wichtig, daß nichts umkommt, was irgend noch verwendbar ist. Daher sind schon in vielen Städten Einrichtungen getroffen, die leeren Konservendosen zu sammeln und zum Einschmelzen an Hüttenwerke zu senden. Es kommen, wenn dies Sammeln überall durchgeführt wird, recht beträchtliche Mengen zusammen, die sonst als wertlos auf den Schutthaufen wandern.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1915 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Eichelmehl und Muckefuck
Im Krieg kommen längst vergessene Nahrungsmittel wieder zu Ehren
Eicheln sind nicht nur zum Basteln zu verwenden, in frühgeschicht-licher Zeit waren sie auch ein gängiges Nahrungsmittel – und zwar nicht nur für das Vieh, sondern auch für die Menschen. Die Eiche galt früher als eine Art »Brotbaum«, der die Menschen ernähren konnte.
In Erwartung eines schnellen Sieges hatte es in Deutschland keine Vorbereitungen für einen längeren Krieg gegeben. So wurden selbst die normalen Nahrungsmittelvorräte schon in den ersten Kriegsmonaten verbraucht. Das Fehlen der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, die immer schlechteren Wartungs- und Ersatzmöglichkeiten von Landmaschinen sowie der Mangel an Düngemitteln, verursacht durch die englische Seeblockade, führten zu einem deutlichen Einbruch bei der Nahrungsmittelproduktion. Hochwertige Nahrungsmittel wie Fleisch, Butter und Eier wurden für viele Großstädter zu unerschwinglichen Luxusartikeln. Immer öfter musste die Bevölkerung mit Ersatzstoffen vorliebnehmen. Und so erinnerte man sich wieder an längst vergessene Nahrungsmittel, wie die Eichel.
Eicheln enthalten viele Kohlenhydrate in Form von Stärke und Zucker sowie Öl und Proteine. Sie sind also äußerst nahrhaft. Roh sind sie wegen des hohen Gerbstoffgehalts ungenießbar. Um die Bitterstoffe zu entfernen, müssen sie daher erst einmal geschält und ausgiebig gewässert werden. Die getrockneten und gemahlenen Eicheln können dann als eine Art Mehlersatz zum Backen von Brot oder Kuchen verwendet werden. Selbst zur Herstellung von Eichelkaffee, dem sogenannten »Muckefuck«, können sie benutzt werden.
Allerdings waren es eher die einkommensschwachen Bevölkerungsschichten, die auf derartige Ersatzstoffe angewiesen waren. Die Wohlhabenderen konnten sich immer noch auf dem Schwarzmarkt bedienen, wo zu horrenden Preisen fast alles zu bekommen war.
mr